EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-720/20 RO gg. Deutschland (Asylmagazin 12/2022, S. 409 ff.) - asyl.net: M30812
https://www.asyl.net/rsdb/m30812
Leitsatz:

Keine Unzulässigkeitsablehnung des Asylantrags eines in Deutschland nachgeborenen Kindes von in EU-Staat Schutzberechtigten:

1. Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO, wonach nachgeborene Kinder im Rahmen des Dublin-Verfahrens so zu behandeln sind wie ihre Familienangehörigen, ist nicht anwendbar, wenn den Familienangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt wurde. Denn Anerkannte fallen nicht in den Anwendungsbereich der Dublin-III-Verordnung. Eine analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO scheidet aus, weil dies dazu führen könnte, dass gegen die minderjährige Person eine Überstellungsentscheidung ergeht, ohne dass die Verfahrensgarantien der Dublin-III-Verordnung zur Anwendung kämen.

2. Eine Ablehnung als unzulässig gemäß Art. 33 Abs. 2 Bst. a Asylverfahrensrichtlinie wegen der Zuerkennung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat ist nur dann möglich, wenn die betroffene Person selbst in einem anderen Mitgliedstaat einen Schutzstatus erhalten hat. Diese Regelung ist auf nachgeborene Kinder nicht analog anwendbar, weil die Unzulässigkeitsgründe der Asylverfahrensrichtlinie eng auszulegen sind und nicht auf Situationen angewendet werden dürfen, die nicht dem Wortlaut der Richtlinie entsprechen.

(Leitsätze der Redaktion; Entscheidung erging auf Vorlage des VG Cottbus, Beschluss vom 14.12.2020 - 5 K 417/19.A - asyl.net: M29203; siehe auch: BVerwG, Urteil vom 23.06.2020 - 1 C 37.19 (Asylmagazin 9/2020, S. 318 f.) - asyl.net: M28715)

Siehe auch:

Schlagwörter: in Deutschland geborenes Kind, Dublinverfahren, nachgeborenes Kind, in Deutschland geborenes Kind, Zuständigkeit, Dublin III-Verordnung, Aufnahmegesuch, Analogie, Überstellungsfrist, internationaler Schutz in EU-Staat, Schutz von Ehe und Familie, Anerkannte,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, RL 2005/85/EG Art. 33 Abs. 2 Bst. a, VO 604/2013 Art. 20 Abs. 3, VO 604/2013,
Auszüge:

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

30 Mit der ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob im Hinblick auf das Anliegen der Dublin-III-Verordnung, die Sekundärmigration zu vermeiden sowie das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens der Antragsteller auf internationalen Schutz und insbesondere die Familieneinheit zu wahren, Art. 20 Abs. 3 dieser Verordnung dahin auszulegen ist, dass er analog auf die Situation anwendbar ist, in der ein Minderjähriger und seine Eltern Anträge auf internationalen Schutz in dem Mitgliedstaat stellen, in dem der Minderjährige geboren wurde, seine Eltern jedoch bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen. [...]

32Aus dem klaren Wortlaut von Art. 20 Abs. 3 der Dublin‑III‑Verordnung ergibt sich, dass er voraussetzt, dass die Familienangehörigen des Minderjährigen die Eigenschaft eines „Antragstellers“ im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Verordnung noch haben, und er folglich nicht die Situation eines Minderjährigen regelt, der geboren wird, nachdem seinen Familienangehörigen internationaler Schutz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat zuerkannt worden ist, in dem der Minderjährige geboren wird und mit seiner Familie wohnt.

34 Zur Frage, ob Art. 20 Abs. 3 der Dublin‑III‑Verordnung auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gleichwohl analog angewendet werden kann, ist – wie der Generalanwalt in Nr. 28 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat – darauf hinzuweisen, dass die Situation eines Minderjährigen, dessen Familienangehörige internationalen Schutz beantragt haben, und die Situation eines Minderjährigen, dessen Familienangehörige bereits Begünstigte internationalen Schutzes sind, im Rahmen der durch die Dublin‑III‑Verordnung geschaffenen Regelung nicht vergleichbar sind [...].

35 In dieser Hinsicht hat der Unionsgesetzgeber – wie der Generalanwalt in Nr. 28 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – somit insbesondere zwischen der in Art. 9 der Dublin‑III‑Verordnung genannten Situation des Minderjährigen, dessen Familienangehörige bereits in einem Mitgliedstaat Begünstigte internationalen Schutzes sind, und der in Art. 10 und Art. 20 Abs. 3 der Verordnung beschriebenen Situation des Minderjährigen, dessen Familienangehörige internationalen Schutz beantragt haben, unterschieden.

36 In der ersten Situation, die der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entspricht, würde durch eine analoge Anwendung von Art. 20 Abs. 3 der Dublin‑III‑Verordnung auf den betreffenden Minderjährigen sowohl dem betreffenden Minderjährigen als auch dem Mitgliedstaat, der den Familienangehörigen des Minderjährigen internationalen Schutz gewährt hat, die Anwendung der in der Verordnung vorgesehenen Verfahren vorenthalten.

37 Insbesondere hätte die analoge Anwendung von Art. 20 Abs. 3 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung auf einen solchen Minderjährigen zur Folge, dass eine Überstellungsentscheidung gegen ihn ergehen könnte, ohne dass ein Zuständigkeitsverfahren in Bezug auf ihn eingeleitet würde. Die in Art. 20 Abs. 3 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung vorgesehene Befreiung von der Pflicht zur Einleitung eines Zuständigkeitsverfahrens in Bezug auf den Minderjährigen, der nach Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren wird, setzt aber voraus, dass der Minderjährige in das in Bezug auf seine Familienangehörigen eingeleitete Verfahren einbezogen wird, und folglich, dass es sich dabei um ein laufendes Verfahren handelt, was gerade dann nicht der Fall ist, wenn diesen Familienangehörigen bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden ist.

38 Zudem würde der Umstand, dass es dem Geburtsmitgliedstaat des Minderjährigen durch eine analoge Anwendung von Art. 20 Abs. 3 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung ermöglicht würde, eine Überstellungsentscheidung ohne Einleitung eines Zuständigkeitsverfahrens zu erlassen, insbesondere dazu führen, dass die hierfür in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung vorgesehene Frist umgangen würde und sich der Mitgliedstaat, der den Familienangehörigen vor der Geburt des Minderjährigen internationalen Schutz gewährt hat, mit dieser Überstellungsentscheidung konfrontiert sähe, obwohl er nicht über sie informiert worden ist und auch nicht in der Lage gewesen ist, seine Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags dieses Minderjährigen auf internationalen Schutz anzuerkennen.

39 Ferner ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber besondere Vorschriften für den Fall vorgesehen hat, in dem das in Bezug auf die Familienangehörigen des Minderjährigen eingeleitete Verfahren abgeschlossen ist und diese Familienangehörigen daher nicht mehr Antragsteller im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Dublin‑III‑Verordnung sind, sondern als Begünstigte internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt sind. Diese Situation ist insbesondere in Art. 9 der Dublin‑III‑Verordnung geregelt. […]

45 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 20 Abs. 3 der Dublin‑III‑Verordnung dahin auszulegen ist, dass er nicht analog auf die Situation anwendbar ist, in der ein Minderjähriger und seine Eltern Anträge auf internationalen Schutz in dem Mitgliedstaat stellen, in dem der Minderjährige geboren wurde, seine Eltern jedoch bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen. […]

Zur vierten Frage

47 Mit der vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er es durch eine analoge Anwendung gestattet, einen Antrag eines Minderjährigen auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn nicht der Minderjährige selbst, sondern seine Eltern in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen.

48 Nach Art. 33 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95 zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage dieses Artikels als unzulässig betrachtet wird. Insoweit zählt Art. 33 Abs. 2 abschließend die Situationen auf, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können […].

49 Dieser abschließende Charakter beruht sowohl auf dem Wortlaut der genannten Bestimmung, insbesondere auf der Wendung „nur dann“, die der Aufzählung der Unzulässigkeitsgründe vorausgeht, als auch auf dem Zweck dieser Bestimmung, der, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, gerade darin besteht, die Pflicht des zuständigen Mitgliedstaats, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, dadurch zu lockern, dass Fälle definiert werden, in denen ein solcher Antrag als unzulässig zu betrachten ist (Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal [Tompa], C‑564/18, EU:C:2020:218, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zudem ist unter Berücksichtigung dieses Zwecks festzustellen, dass Art. 33 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie in seiner Gesamtheit eine Ausnahme von der Pflicht der Mitgliedstaaten darstellt, alle Anträge auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen.

50 Nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat. […]

51 Allerdings folgt aus dem abschließenden Charakter der Aufzählung in Art. 33 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie und dem Ausnahmecharakter der in dieser Aufzählung enthaltenen Unzulässigkeitsgründe, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie eng auszulegen ist und daher nicht auf eine Situation angewendet werden kann, die nicht seinem Wortlaut entspricht.

52 Der persönliche Anwendungsbereich dieser Bestimmung kann sich daher nicht auf eine Person erstrecken, die internationalen Schutz beantragt hat und selbst keinen solchen Schutz nach der genannten Bestimmung genießt. […]

53 Daher ist festzustellen, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsrechtsstreits, in dem der Antragsteller ein Minderjähriger ist, dessen Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen, der aber selbst keinen solchen Schutz genießt, dieser Antragsteller nicht in den Anwendungsbereich der Ausnahme nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie fällt. Sein Antrag kann daher nicht auf dieser Grundlage für unzulässig erklärt werden.

54 Darüber hinaus kann diese Bestimmung nicht analog angewendet werden, um darauf in dieser Situation eine Unzulässigkeitsentscheidung zu stützen. Denn eine solche Anwendung würde nicht nur den abschließenden Charakter der Aufzählung in Art. 33 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie, sondern auch den Umstand verkennen, dass die Situation eines solchen Minderjährigen nicht mit der einer Person vergleichbar ist, die internationalen Schutz beantragt hat und der bereits in einem anderen Mitgliedstaat ein solcher Schutz gewährt worden ist, was jede Analogie ausschließt.

55 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er auf einen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag eines Minderjährigen auf internationalen Schutz nicht analog anwendbar ist, wenn nicht der Minderjährige selbst, sondern seine Eltern in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen. [...]