Kein Leistungsausschluss von Freizügigkeitsberechtigten, die ihre Arbeit in der Prostitution aufgeben:
Geben Unionsbürger*innen ihre Tätigkeit in der Prostitution willentlich auf, liegt darin keine freiwillige Aufgabe einer Erwerbstätigkeit gemäß § 2 Abs. 3 FreizügG/EU, die zu einem Fortfall des Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU und einem Leistungsausschuss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II führt. Denn eine Arbeit in der Prostitution ist stets unzumutbar im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II und kann wegen dieser Unzumutbarkeit jederzeit aufgegeben werden.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
a. Entgegen der Auffassung des Beklagten sind die Kläger nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II [...] von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Danach sind insbesondere Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen. Die Klägerin hat jedenfalls durch ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierten in den Jahren 2017 bis Juli 2019 ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 i.V.m Abs. 1 FreizügG/EU erlangt (dazu unter aa.), das nach der Vorschrift des § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU fortdauert (dazu unter bb. bis dd.):
aa. Nach § 2 Abs. 2 i.V.m Abs. 1 FreizügG/EU haben niedergelassene selbständige erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörige das Recht auf Einreise und Aufenthalt.
Die Klägerin ist als bulgarische Staatsangehörige eine Unionsbürgerin im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU und damit Unionsbürgerin im Sinne von § 2 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU.
Die Klägerin war ferner jedenfalls im Zeitraum von 2017 bis Juli 2019 als Selbständige i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU tätig. [...]
Ferner unterliegt es – spätestens nach der Legalisierung der Prostitution durch das Gesetz zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (Prostituiertenschutzgesetz – ProstSchutzG vom 21.10.2016, BGBl. I S. 2372) – keinem Zweifel, dass auch die selbständige Tätigkeit als Prostituierte dem Grunde nach eine selbständige Tätigkeit im Sinne § 2 Abs. 2 FreizügG/EU sein kann, die ein Aufenthaltsrecht vermittelt (so zutreffend das Hessisches Landessozialgericht v. 21.08.2020 – L 6 AS 383/20 B ER, juris Rn. 28 mit weiteren Nachweisen). [...]
Die Klägerin hat somit durch ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierte in den Jahren 2017 bis Juli 2017 ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 i.V.m Abs. 1 FreizügG/EU erworben.
bb. Das Aufenthaltsrecht der Klägerin aufgrund ihrer selbständigen Tätigkeit bestand im streitgegenständlichen Zeitraum von Oktober 2020 bis einschließlich Mai 2022 nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU fort. Danach bleibt das Freizügigkeitsrecht für selbständig Erwerbstätige bei Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einen Jahr Tätigkeit unberührt.
Das Gericht ist zunächst davon überzeugt, dass die Klägerin ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierte jedenfalls in den Jahren von 2017 bis Juli 2019 ohne wesentliche Unterbrechungen und damit mehr als ein Jahr lang ausgeübt hat. [...]
Das Gericht geht - anders als der Beklagte - ferner davon aus, dass die Klägerin die mehr als einjährige Tätigkeit als Prostituierte im Sinne von § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU infolge von Umständen aufgegeben hat, auf die sie als Selbständige keinen Einfluss hatte.
Wie sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt, liegt eine unfreiwillige Aufgabe der selbständigen Tätigkeit in diesem Sinne vor, wenn die Selbständigkeit aufgrund von Umständen aufgegeben wird, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte. Entgegen der Auffassung des Beklagten kommt es insofern nicht darauf an, ob die Beendigung der Tätigkeit auf einer bewussten und willentlichen Entscheidung beruht; dies wird bei der Beendigung einer selbständigen Tätigkeit in aller Regel der Fall sein. Maßgeblich ist vielmehr, ob die selbständig tätige Person die Beendigung der selbständigen Tätigkeit zu vertreten hat oder ob die Beendigung auf Umständen beruht, die die Person nicht maßgeblich beeinflussen kann und die es für den Selbständigen unmöglich oder unzumutbar machen, seine Tätigkeit fortzuführen [...].
Vorliegend ist das Gericht überzeugt, dass die Klägerin die Gründe für die Beendigung ihrer selbständigen Tätigkeit als Prostituierte nicht zu vertreten hat. Die Beendigung ihrer Tätigkeit beruhte vielmehr auf den objektiv unzumutbaren Umständen der prekären Armutsprostitution, die die Klägerin in den Jahren 2017 bis Juni 2019 ausgeübt hat. Das Gericht hält es für nicht weniger als offensichtlich, dass es objektiv keinem Menschen zugemutet werden kann, sich unter den von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 15.06.2022 geschilderten Bedingungen des Berliner Straßenstrichs zu prostituieren.
Aber auch unabhängig von den konkreten Umständen der Ausübung der Prostitution im vorliegenden Einzelfall ist das Gericht der Auffassung, dass die willentliche Beendigung der Prostitution generell keine freiwillige Aufgabe der Erwerbstätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU ist, die einen Fortfall des Aufenthaltsrechts und damit der Sozialleistungsberechtigung nach sich zieht:
Eine Tätigkeit in der Prostitution ist nicht mit einer gewöhnlichen Erwerbstätigkeit vergleichbar. Das Erbringen sexueller Dienstleistungen berührt die Intimsphäre und damit die Menschenwürde der betroffenen Personen in besonders starker Weise. [...]
Aus der Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde folgt zunächst, dass der Staat keine Arbeitsvermittlung in die Prostitution vornehmen darf. [...]
Aus der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde folgt zudem, dass eine Arbeit in der Prostitution im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II als unzumutbar anzusehen ist und von der betreffenden Person nicht ausgeübt werden muss, um ihre Hilfebedürftigkeit zu verringern. Es würde gegen die Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde verstoßen, wenn der Staat Hilfebedürftige dazu zwingt, sexuelle Dienstleistungen erbringen zu müssen, um Einkommen zur Verringerung oder Beendigung ihrer Hilfebedürftigkeit zu erzielen (so zutreffend Böttiger in: Eicher, SGB II, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 88 und 93 mit weiteren Nachweisen). Eine im Sinne von § 10 Abs. 1 SGB II unzumutbare Tätigkeit darf die betreffende Person aber wegen der Unzumutbarkeit jederzeit aufgeben, ohne dass dies eine freiwillige Arbeitsaufgabe im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU darstellen würde. Beendet ein Unionsbürger seine Tätigkeit in der Prostitution, weil er oder sie die Tätigkeit als nicht mehr zumutbar empfindet, beruht die Aufgabe der Tätigkeit vielmehr auf der Unzumutbarkeit der Prostitution an sich und damit auf Umständen, die die Person nicht zu vertreten hat.
Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass die betreffende Person die Arbeit zuvor ausgeübt hat. Eine objektiv unzumutbare Arbeit, deren Ausübung der Staat von niemandem verlangen kann, wird nicht deshalb zumutbar, weil die Person die Arbeit zeitweise ertragen hat. [...]
Im Ergebnis folgt daher aus der Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde, dass der Staat die weitere Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger nicht daran knüpfen darf, dass eine Tätigkeit in der Prostitution weiterhin ausgeübt werden muss. Anderenfalls würden Menschen wegen entfallender Sozialleistungen mittelbar gezwungen, weiterhin gegen ihren Willen in der Prostitution arbeiten zu müssen, statt sich aus diesem Gewerbe lösen zu können. [...]