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VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 07.06.2022 - 4 K 531/20.A (Asylmagazin 12/2022, S. 404 f.) - asyl.net: M30789
https://www.asyl.net/rsdb/m30789
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz hinsichtlich Venezuelas wegen unmenschlicher Behandlung durch "Colectivos":

1. Colectivos stellen kein homogenes Phänomen dar. Es ist eine Sammelbezeichnung für verschiedene Gruppierungen unterschiedlicher Herkunft, Ideologie und Zweckverfolgung. Nicht alle Colectivos sind bewaffnet oder wenden Gewalt an.

2. Colectivos sind je nach Einzelfall nichtstaatliche Akteure, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Trotz ihrer Nähe zu staatlichen Institutionen stellen sich ihre Übergriffe als das Werk krimineller Banden dar, um ein Klima der Angst und Kontrolle zu verbreiten. Staatliche Akteure bieten gegen ihre Übergriffe erwiesenermaßen keinen Schutz.

3. Von den Aktionen der Colectivos sind zuvorderst regierungskritische Personen betroffen, zu denen neben Mitgliedern der gewählten Opposition auch anderweitig überwachenswert erscheinende Personen wie Studierende, Journalist*innen, Blogger*innen und Demonstrationsteilnehmer*innen zählen. Dabei bedürfen diese Personen keiner besonderen Prominenz. Schikanen und Repressalien sind gegenüber weniger prominenten Personen einfacher durchzuführen als gegen herausstehende Personen der Gesellschaft. Colectivos haben aufgrund ihrer Verbindungen zu den Sicherheitskräften Zugang zu staatlichen Datenbanken.

4. Je nach Einzelfall agieren Colectivos auch überregional, sodass kein interner Schutz in einem sicheren Teil Venezuelas zu erlangen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Venezuela, ernsthafter Schaden, Bedrohung, Colectivos, interner Schutz, interne Fluchtalternative, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2, AsylG § 4 Abs. 3 S. 1, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3d Abs. 1, AsylG § 3e Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG. [...]

Bei der Beurteilung kommt dem Kläger die Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 Anerkennungsrichtlinie zu Gute. [...]

Dem Kläger drohte in Venezuela vor dessen Ausreise unmittelbar ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG in Form einer unmenschlichen Behandlung. [...]

In dem Ereignis vom 29. November 2019 sieht das Gericht den Kläger unmittelbar von einem ernsthaften Schaden bedroht i.S.d. Art. 4 Abs. 4 Anerkennungsrichtlinie durch eine unmenschliche Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG. Die Verfolgung des Klägers durch das mit Colectivos besetzte Auto stellt sich als ein hochgradig gefährliches Verhalten im an sich schon stark risikobehafteten Straßenverkehr, insbesondere für Motorradfahrer, dar und die mehrfach abdrängenden Manöver zeigen eine Beharrlichkeit auf, die deutlich macht, dass es den Insassen und dem Fahrer in ihrem Zusammenwirken auf eine erhebliche Gefährdung der Motorradbesatzung ankam. Die Rücksichtslosigkeit des Fahrverhaltens deutet darauf hin, dass eine jedenfalls schwere bis tödliche Verletzung des Klägers und seiner Schwägerin von den Verfolgern gebilligt wurde, ggf. sogar absichtlich herbeigeführt werden sollte. [...]

Bei den den Kläger verfolgenden Colectivos handelt es sich im vorliegenden Einzelfall um einen tauglichen Akteur nach § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG von dem die Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgehen kann. Den Erkenntnismitteln nach sind Colectivos zwar nicht per se geeignete Akteure i.S,d. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG, sodass der Umstand, dass Personen, die einmal ins Visier der Colectivos geraten und deshalb immer wieder mit Übergriffen zu rechnen haben, nicht automatisch zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus führt. Im Fall des Klägers jedoch stellen sich die Colectivos als nichtstaatliche Akteure dar, vor denen die schutzverpflichteten Akteure i.S.d. § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3c Nr. 1 und 2 AsylG erwiesenermaßen nicht willens oder nicht in der Lage sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden zu bieten.

Nach den gerichtlichen Erkenntnismitteln stellen die venezolanischen Colectivos kein homogenes Phänomen dar, sondern es tritt in verschiedenen Ausformungen auf. Der Begriff Colectivo ist eine Sammelbezeichnung für verschiedene Gruppierungen unterschiedlicher Herkunft, Ideologie und Zweckverfolgung, dem keine Unterscheidungskraft an sich zukommt. Sie betätigen sich zum einen in Gemeindebereichen und Sozialprogrammen der Regierung und übernehmen insofern Aufgaben der Versorgung der Bevölkerung. Nicht alle Colectivos sind bewaffnet oder wenden Gewalt an (vgl. EASO, Länderfokus Venezuela 2020, S. 106). [...]

Von den Aktionen der Colectivos werden zuvorderst regierungskritische Personen betroffen, zu denen nicht nur Mitglieder der politischen (gewählten) Opposition zählen, sondern auch anderweitig überwachungswert erscheinende, regierungskritisch auffallende Personen, wie Studierende, Journalisten, Blogger und Demonstrationsteilnehmer (Schweizerisches Staatssekretariat für Migration, Notiz Venezuela Colectivos, S. 12; s.a. EASO, Länderfokus Venezuela 2020, S. 113). Dabei finden Vorfälle in Mehrheit außerhalb der von den Colectivos kontrollierten Gebieten statt (Schweizerisches Staatssekretariat für Migration, Notiz Venezuela Colectivos, S. 12). Es kann davon ausgegangen werden, dass die Colectivos Zugang zu staatlichen Datenbanken haben, was daher herrührt, dass viele der Mitglieder auch Angehörige der Sicherheitskräfte sind (EASO, Länderfokus Venezuela 2020, S. 113). Personen, die in den Fokus der Colectivos geraten, bedürfen keiner besonderen Prominenz, damit diese gegen sie vorgehen. Die Anwendung von Schikanen und Repressalien sind gegenüber weniger prominenten Personen vielmehr einfacher durchzuführen, als gegen herausstehende Personen der Gesellschaft (EASO, Länderfokus Venezuela 2020, S. 113). [...]

Im Ergebnis stellen sich venezolanische Colectivos nach den ausgewerteten Erkenntnismitteln selbst, trotz der nicht von der Hand zu weisenden Nähe zu staatlichen Institutionen und einer gewissen Tolerierung ihres Agierens durch die Regierung, in aller Regel nicht als staatliche und auch nicht quasistaatliche Akteure dar, sondern ihre Übergriffe stellen regelmäßig das Werk krimineller Banden dar (so auch VG Dresden, Urt. v. 20. Mai 2019 - 13 K 4383/17.A -, juris Rn. 21 ). Sie sind dabei bedacht, in der Bevölkerung ein allgemeines Klima der Angst und Kontrolle zu verbreiten und verwenden hierfür auch (exzessive) Gewalt. [...]

Hieran zeigt sich, dass sich das örtliche Colectivo in Caracas, anders als von den üblicherweise zu beobachteten Verhaltensweisen, bei der Verfolgung seines Schädigungsinteresses dazu veranlasst fühlt, nicht örtlich begrenzt, sondern überregional tätig zu werden, um seinen Einfluss auf den Kläger auszuüben und seiner habhaft zu werden. [...]

Die Möglichkeit, dass es für den Kläger einen sicheren Teil in seinem Herkunftsland gibt, in dem ihm Schutz geboten wird, sieht das Gericht durch das in seinem Fall überregional agierende Colectivo als widerlegt an. [...]