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OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 16.06.2022 - 13 ME 367/21 - asyl.net: M30781
https://www.asyl.net/rsdb/m30781
Leitsatz:

Zu den Tatbestandsvoraussetzungen des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses:

Kein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse wegen Äußerungen im Sinne der sog. Grauen Wölfe.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausweisung, Türkei, Graue Wölfe, Straftat, besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, Schutz von Ehe und Familie, Kindeswohl, Bleibeinteresse,
Normen: AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 4, AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 5, AufenthG § 55 Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

20 Nach § 54 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG besonders schwer, wenn der Ausländer zu Hass gegen Teile der Bevölkerung aufruft; hiervon ist auszugehen, wenn er auf eine andere Person gezielt und andauernd einwirkt, um Hass auf Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen oder Religionen zu erzeugen oder zu verstärken oder öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften in einer Weise, die geeignet ist, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu stören, gegen Teile der Bevölkerung zu Willkürmaßnahmen aufstachelt (Buchst. a), Teile der Bevölkerung böswillig verächtlich macht und dadurch die Menschenwürde anderer angreift (Buchst. b) oder Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit, ein Kriegsverbrechen oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt (Buchst. c), es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem Handeln Abstand. [...]

23 Hieran gemessen dürfte der Antragsteller mit seinem Verhalten anlässlich von ihm erbrachter Hilfsdienste bei der Eröffnung der DITIB-Moschee und des Besuchs des türkischen Präsidenten Erdoğan in Köln am 29. September 2018 und mit seinen öffentlich zugänglichen Äußerungen in verschiedenen sozialen Medien (siehe hierzu im Einzelnen oben I.2.) den Grundtatbestand des § 54 Abs. 1 Nr. 5 Halbsatz 1 AufenthG nicht verwirklicht haben. Seinem Handeln ist nicht hinreichend klar zu entnehmen, dass der Antragsteller auf Dritte derart einwirken wollte, dass in diesen der Entschluss zu einem bestimmten Verhalten hervorgerufen werden sollte. Auch richten sich die Äußerungen nicht gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, die sich etwa nach ethnischen oder religiösen, sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Merkmalen von der übrigen Bevölkerung unterscheiden. Die abstrakten populistischen Äußerungen des Antragstellers sind vielmehr an die Allgemeinheit adressiert oder auf nicht näher bestimmte "Verräter" (so die Äußerungen auf Facebook am 29.9.2018, Blatt 1524 der Beiakte 3, und am 11.1.2021, Blatt 1630 der Beiakte 3) und "diejenigen …, die gekommen sind" (so die Äußerung auf Facebook am 1.1.2021, Blatt 1620 der Beiakte 3) bezogen. Nichts anderes ergibt sich entgegen der Beschwerde aus einer von der Antragsgegnerin angenommenen Zugehörigkeit des Antragstellers zur Gruppierung "Graue Wölfe". Der Senat hat bereits Zweifel, ob der Antragsteller der Gruppierung überhaupt angehört, geschweige denn deren "Vorreiter" ist. Belastbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine solche Zugehörigkeit zur oder Stellung in der Gruppierung fehlen. [...] Zudem dürften die "Feinde" der "Grauen Wölfe" nicht als nach ethnischen oder religiösen, sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Merkmalen von der übrigen Bevölkerung unterscheidbare Gruppe angesehen werden können. Hiergegen spricht schon deren eher diffuse und vielschichtige Umschreibung (vgl. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport - Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2020, veröffentlicht unter: www.verfassungsschutz.niedersachsen.de, S. 262: "als separatistisch empfundene ethnische Minderheiten in der Türkei" und S. 279: "insbesondere gegen Juden, Griechen, Kurden und Armenier gerichtet"). [...]

26 c. Selbst wenn man entgegen Vorstehendem das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG bejahte, wäre fraglich, ob nicht der Ausschlussgrund nach dem letzten Halbsatz dieser Bestimmung erfüllt wäre, weil der Antragsteller "erkennbar und glaubhaft von seinem Handeln Abstand" genommen hat. Der Antragsteller hat mit seiner eidesstattlichen Versicherung vom 31. März 2021 (Blatt 80 der Gerichtsakte) hinreichend glaubhaft gemacht (vgl. zum Glaubhaftmachungserfordernis im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO: Senatsbeschl. v. 4.9.2019 - 13 ME 282/19 -, juris Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 31.5.1999 - 10 S 2766/98 -, NVwZ 1999, 1243, 1244 - juris Rn. 12; Hessischer VGH, Beschl. v. 1.8.1991 - 4 TG 1244/91 -, NVwZ 1993, 491, 492 - juris Rn. 34; Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 80 Rn. 125 m.w.N.), dass er seine öffentlichen Äußerungen in den sozialen Medien gelöscht hat. Auch seine Einlassungen zu den Ursachen und Hintergründen seines zurückliegenden und beanstandeten Handelns können angesichts dessen beschriebenen Inhalts und Bedeutung (siehe oben I.2. und I.3.a.) nicht ohne Weiteres als unglaubhaft angesehen werden. [...]

34 Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht ein ebenfalls besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gegenüber. Das Verwaltungsgericht hat, ohne dass dies mit der Beschwerde angegriffen worden ist, festgestellt, dass der Tatbestand des § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG verwirklicht ist (Beschl. v. 10.8.2021, Umdruck S. 10 f.). Der Antragsteller lebt mit seinem mittlerweile 13-jährigen Sohn ... in einem Haushalt zusammen und übt seit 2017 faktisch allein die Personensorge aus, weil - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - ein Zusammenleben des Kindes mit der Mutter nicht in Frage kommt. Der Sohn des Antragstellers ist pflegebedürftig (Pflegegrad 2), und die erforderliche Pflege wird von dem Antragsteller geleistet. [...]