VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 17.06.2022 - 1 A 14/22 - asyl.net: M30779
https://www.asyl.net/rsdb/m30779
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für antifaschistischen Aktivisten aus der Russischen Föderation:

1. Der Kläger ist nicht vorverfolgt ausgereist, kann sich aber auf Nachfluchtgründe berufen, da er über verschiedene Accounts in sozialen Netzwerken 10 000 Follower erreicht und sich zu verschiedenen innenpolitischen Themen äußert, die er als antifaschistisch einordnet, insbesondere Antimilitarismus, Feminismus und LSBTIQ-Fragen. Dass er diese Inhalte nicht lediglich unter dem Eindruck des Asylverfahrens veröffentlicht, ergibt sich u.a. aus der Konstanz seiner Aktivitäten über mehrere Jahre (vgl. § 28 Abs. 1 S. 1 AsylG).

2. Aufgrund dieser öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten wäre der den russischen Ermittlungsbehörden schon vor seiner Ausreise bekannte Aktivist im Falle seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch staatliche Akteure ausgesetzt, ohne dass eine interne Fluchtalternative bestünde.

3. Die Meinungsfreiheit wird zwar in der russischen Verfassung garantiert, wird aber durch ein ständig dichter werdendes Netz einschränkender und bestrafender Vorschriften beschnitten. Mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine wurde das Strafrecht im Hinblick auf die Verbreitung "falscher Informationen über russische Militäreinsätze" und "die Herabwürdigung der russischen Armee" weiter verschärft. Die damit einhergehenden besonders hohen Strafandrohungen stellen bereits für sich eine unverhältnismäßige Bestrafung und mithin Verfolgung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG dar. Hinzu treten beachtliche Einschränkungen hinsichtlich des Grundsatzes des fairen Verfahrens im Strafverfahren und die unmenschlichen und entwürdigenden Haftbedingungen. Politische Gefangene sind besonders harten Haftbedingungen unterworfen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, politische Verfolgung, Antifaschist, Internetaktivist, Meinungsfreiheit, unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, interne Fluchtalternative, Ukraine-Krieg,
Normen: AsylG § 28 Abs. 1 S. 1, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

26 Der Kläger kann sich allerdings mit Erfolg auf Nachfluchtgründe i.S.d. § 28 Abs. 1a i.V.m. § 3 Abs. 1 AsylG berufen. Er hat im gerichtlichen Verfahren durch Vorlage von Auszügen aus seinen Veröffentlichungen in sozialen Medien sowie im Rahmen seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung glaubhaft gemacht, dass er sich weiter im Internet auf verschiedenen Plattformen kritisch mit der russischen Politik auseinandersetzt. Insbesondere äußert er sich nunmehr seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 ablehnend zu Umständen der Kriegsführung, die er als Kriegsverbrechen bewerte. Diese Aktivitäten stellen sich nach Überzeugung der Einzelrichterin als Fortentwicklung der politischen Aktivitäten des Klägers in seinem Heimatland dar, wo dieser sich zu verschiedenen innenpolitisch relevanten Themen bereits geäußert hatte, die er selbst als "antifaschistisch" einordnete, unter anderem Antimilitarismus, Feminismus, LSBITQ-Fragen. Dem Kläger gelingt es zwar nicht, den Verbreitungsgrad seiner Seiten im Heimatland – zuletzt nach seinen Angaben 12.000 Follower – zu erreichen, die Verbreitung ist aber mit insgesamt etwa 10.000 Followern auf drei Accounts weiterhin so erheblich, dass die Auftritte weit über den privaten Kreis des Klägers hinausgehen. [...] Dass der Kläger nicht unter dem Eindruck des Asylverfahrens in den sozialen Medien veröffentlicht, ergibt sich zum einen aus der Konstanz seiner Aktivitäten über etliche Jahre, zum anderen auch aus dem persönlichen Eindruck des Klägers in der mündlichen Verhandlung. [...]

27 Aufgrund dieser öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten wäre der Kläger, der nach glaubhaften Angaben bereits vor seiner Ausreise jedenfalls den russischen Ermittlungsbehörden bekannt geworden ist, im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch staatliche Akteure ausgesetzt, ohne dass eine interne Fluchtalternative bestünde. [...] Danach ist die Meinungs- und [Versammlungsfreiheit] [ist] in der Russischen Föderation zwar verfassungsrechtlich garantiert, wird aber durch ein "ständig dichter werdendes Netz einschränkender und bestrafender Vorschriften" beschränkt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21.05.2021, Stand: Oktober 2020, S. 6). [...] Mit dem Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine wurde das Strafrecht weiter deutlich verschärft. Am 04.03.2022 wurden das Ordnungswidrigkeitengesetz und das Strafgesetzbuch um Vorschriften ergänzt, nach denen die Verbreitung von falschen Informationen über russische Militäreinsätze und die Herabwürdigung der russischen Armee mit Geldbußen von bis zu 1,5 Mio. Rubel oder einer Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren geahndet werden (European Union Agency for Asylum - EUAA -, Country of Origin Query: Russian Federation, vom 05.04.2022, S. 7). Nach Berichten von Amnesty International wurden in wenigen Tagen nach Inkrafttreten der Vorschriften 140 Personen verhaftet (EUAA, ebd., mit Nachweis). Am 22.03.2022 wurde die "Fake news"-Gesetzgebung weiter verschärft; die Klägervertreterin hat zutreffend im gerichtlichen Verfahren auf den entsprechenden Straftatbestand  hingewiesen. Diese besonders hohen Strafandrohungen stellen für sich genommen bereits eine unverhältnismäßige Bestrafung i.S.d. § 3a Abs. 1 Nr. 3 AsylG und damit eine Verfolgungshandlung dar. Dazu treten beachtliche Einschränkungen im gerichtlichen Strafverfahren hinsichtlich der Einhaltung des Grundsatzes des fairen Verfahrens (vgl. UNDOS, Russia 2021 Human Rights Report, S. 18 ff.) sowie die Haftbedingungen in russischen Gefängnissen als weitere Aspekte, die zu einer unverhältnismäßigen Strafverfolgung und Bestrafung führen. Verurteilte Straftäter werden entweder in sogenannten Ansiedlungskolonien, Erziehungskolonien, Besserungsheileinrichtungen, Strafkolonien oder in einem Gefängnis untergebracht. Die Verhältnisse sind unterschiedlich. Jedenfalls in Gefängnissen sind die Haftbedingungen unmenschlich und entwürdigend (Auswärtiges Amts, a.a.O., S. 17 f.). Sie sind von Überfüllung, Übergriffen durch Wärter und andere Insassen, beschränktem Zugang zu gesundheitlicher Versorgung, Mangel an Essen und unzureichenden hygienischen Bedingungen geprägt (UNDOS, a.a.O., S. 10). Insbesondere politische Gefangene, die u.a. wegen "Terrorismus", "Extremismus", "Separatismus" oder Spionage verurteilt worden sind, werden besonders harten Haftbedingungen unterworfen, zu denen auch Einzelhaft oder die Unterbringung in psychiatrischen Abteilungen gehören (UNDOS, a.a.O., S. 20). [...]