VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 14.04.2022 - 8 K 2517/19.A - asyl.net: M30761
https://www.asyl.net/rsdb/m30761
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für Person aus dem Libanon:

Die Situation im Libanon ist geprägt durch eine schwere Finanz- und Wirtschaftskrise, sodass es dem Kläger trotz familiären Netzwerks nicht möglich sein wird, das Existenzminimum seiner Familie zu sichern.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Libanon, Abschiebungsverbot, Existenzminimum, Familienangehörige
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

III. Dem Kläger steht allerdings ein Anspruch auf die Feststellung zu, dass ein Abschiebungsverbot gemäߧ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Bezug auf den Libanon vorliegt. [...]

Gemessen an diesen Anforderungen besteht unter Würdigung sämtlicher Besonderheiten des Einzelfalles vorliegend die beachtliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK. Denn das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger und seine Ehefrau im Falle einer Rückkehr in den Libanon nicht in der Lage wären, die elementarsten Bedürfnisse in Bezug auf Ernährung, Hygiene und Unterkunft der fünfköpfigen Familie zu befriedigen.

Libanon befindet sich aktuell in einer schweren Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Corona-Pandemie sowie die Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 haben diese Krise erheblich verschärft. Die Landeswährung hat gegenüber dem US-Dollar innerhalb von 18 Monaten (seit 2019) über 90 % ihres Wertes verloren, die jährliche Inflation liegt bei über 140 %, Lebensmittel haben sich zwischen Oktober 2019 und Juni 2021 durchschnittlich um 404 % verteuert. Dreiviertel der Bevölkerung leben nunmehr an oder unter der Armutsgrenze von ca. 4 USD pro Tag, Tendenz steigend. Die inzwischen weitgehend entfallene Subventionierung von Treibstoff, Nahrungsmitteln und medizinischen Gütern heizt die Inflation voraussichtlich weiter an. Insbesondere im Nord-Libanon (Akkar-Gebiet), in der nördlichen Bekaa-Ebene (insb. Hermel-Gebiet) sowie im Süd-Libanon bestehen hohe Armutsraten. Die Arbeitslosigkeit unter Libanesen liegt offiziell bei 7 %, unter libanesischen Jugendlichen bei 21,7 %. Erhebungen zu den Zahlen nach der Explosion stehen noch aus, jüngste Schätzungen gehen allerdings von einer Arbeitslosigkeit von jetzt über 30 % aus.

Für arme Libanesinnen und Libanesen besteht bislang nur ein rudimentäres System der sozialen Sicherung in Form des nationalen Armutsprogramms. Derzeit erhalten lediglich 36.200 Familien Nahrungsmittelhilfe in Höhe von 200.000 LBP pro Kopf/pro Monat über das nationale Armutsprogramm, wobei dies nur einem Drittel des im Juni festgelegten Survival Minimum Expenditure Basket entspricht. Die Zahl soll bis Januar 2022 auf 75.000 und auf 100.000 Haushalt bis April 2022 erhöht werden. Die Einführung eines "ration card"-Systems für etwa 500.000 Haushalte wurde angekündigt, aber bislang nicht umgesetzt. Es existiert weder eine allgemeine Arbeitslosen- noch eine Rentenversicherung (nur eine arbeitsrechtliche Austrittsprämie, die mit Blick auf die Arbeitsjahre berechnet wird). Wesentliches Element sozialer Sicherung ist die Familie, daneben karitative und religiöse Einrichtungen (immer nur für die jeweilige Religionsgruppe). [...]

Bereits im Dezember 2020 stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fest, dass die vielfältigen politischen, medizinischen und wirtschaftlichen Probleme ökonomisch in einer außergewöhnlich starken Rezession kulminieren und dass das Bruttosozialprodukt des Libanon um über 26% absinken könnte. [...]

Angesichts dieser wirtschaftlichen Lage im Libanon und den Besonderheiten im vorliegenden Fall besteht die beachtliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK bei einer Rückkehr der fünfköpfigen Familie in den Libanon. Es sind keine Umstände erkennbar, die auf eine hinreichende autarke Leistungsfähigkeit des Klägers und seiner Ehefrau schließen lassen.

Unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse und der Besonderheiten des Einzelfalls ist nicht zu erwarten, dass der Kläger, welcher sein Restaurant in Saida aufgeben musste, in der Lage sein wird, eine Beschäftigung aufzunehmen, um die Grundversorgung der Familie alleine ausreichend zu gewährleisten. Er hat zwar Erfahrungen in der Gastronomie, allerdings liegt dieser Wirtschaftszweig derzeit relativ darnieder. Die Bodyguard-Tätigkeit scheint vornehmlich auf den freundschaftlichen Beziehungen zum Sänger ... beruht zu haben und nicht auf einer entsprechenden Ausbildung. Hinsichtlich anderer (Hilfs-)Tätigkeiten ist zu berücksichtigen, dass der Kläger die Schule nur bis zur fünften Klasse besucht hat und allein lesen kann.

Die Ehefrau des Klägers ist als Universitätsabsolventin in psychosozialen Unterstützungsprogrammen für Flüchtlinge und Waisenkinder tätig gewesen. Auch wenn die vorgelegten ärztlichen Atteste nicht alle Anforderungen an ein Attest im Sinne des § 60a Abs. 2 lit. c und d AufenthG erfüllen dürften, steht allerdings fest, dass die Ehefrau insbesondere aufgrund der Fluchterlebnisse allein mit drei Kindern in Griechenland nicht derart belastbar erscheint, dass ihr aktuell neben der Kinderbetreuung eine Erwerbstätigkeit zumutbar erscheint. Dies gilt zumal angesichts der Veränderungen der wirtschaftlichen Situation und des damit einhergehenden umkämpften Arbeitsmarkts im Libanon im Nachgang zur Ausreise im August 2018.

Zwar verfügen der Kläger und seine Ehefrau nach eigenen Angaben - an denen das Gericht zu zweifeln keinen Anlass sieht - über ein familiäres Netzwerk im Libanon. Nach den vorliegenden Erkenntnissen stellt das familiäre Netzwerk im Libanon mangels einem sonstigen entwickelten Sozialsystem das wesentliche Element der sozialen Sicherung dar. Dass die Familienangehörigen aber für die fünfköpfige Familie angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Notlage im Libanon eine hinreichend finanzielle Unterstützung gewähren können, ist jedoch nicht mit der erforderlichen hinreichenden Sicherheit feststellbar. Die Verwandten im Libanon - z.B. der Bruder des Klägers … - hat neben seiner Frau drei Kinder zu unterhalten; der Bruder … lebt abgeschottet im Palästinensercamp; der Bruder … arbeitet gesundheitsbedingt aktuell nicht - befinden sich derzeit unter Beachtung der wirtschaftlichen Situation im Libanon nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in einer finanziellen Situation, die es ihnen ermöglichen würde, der Kernfamilie des Klägers finanziell Unterstützung im erforderlichen Maße zu leisten. So hat der Kläger glaubhaft angegeben, dass … zwar noch im Besitz des alten Vaters sei, allerdings lebten sie "von der Hand in den Mund": sie könnten sich zwar selbst unterhalten, aber nicht mehr. Die im Ausland lebenden Verwandten - so befindet sich der Bruder des Klägers ... in Griechenland im laufenden Asylverfahren und ist dort bei ... tätig; der Bruder ... ist in ... bei ... beschäftigt; der Bruder ..., der in ... lebt, ist aktuell nach einem Unfall nicht erwerbstätig - sind ebenfalls nach den nicht zu widerlegenden Angaben nicht in der Lage, die Familie zu unterstützen. [...]