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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 22.02.2022 - XIII ZB 74/20 (Asylmagazin 12/2022, S. 416 f.) - asyl.net: M30748
https://www.asyl.net/rsdb/m30748
Leitsatz:

Anspruch auf rechtliches Gehör und faires Verfahren im Abschiebungshaftverfahren:

1. Beantragen Verfahrensbevollmächtigte Einsicht in die Gerichts- und Behördenakte und kündigen an, die Beschwerde gegen einen Haftbeschluss anschließend zu begründen, darf das Beschwerdegericht die Beschwerde aufgrund des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG erst zurückweisen, wenn es Akteneinsicht gewährt und eine für die Begründung angemessene Zeit zugewartet hat. Die Haft ist andernfalls rechtswidrig, wenn die Entscheidung des Beschwerdegerichts auf diesem Verfahrensfehler beruht.

2. Nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens darf eine Hauptsacheentscheidung ohne Anwesenheit einer anwaltlichen Vertretung in der Anhörung nur ergehen, wenn die betroffene Person ausdrücklich auf die Anwesenheit einer Anwältin/eines Anwalts verzichtet hat. Bei Unklarheiten diesbezüglich hat das Gericht aufzuklären, ob die betroffene Person eine anwaltliche Vertretung in der Anhörung wünscht. Aus der weiteren Teilnahme der betroffenen Person ohne Vertretung lässt sich nicht ohne weiteres schließen, dass eine anwaltliche Vertretung nicht gewünscht wird. Wünscht die betroffene Person anwaltliche Vertretung, ohne eine*n Anwält*in benennen zu können, darf das Gericht die Haft nicht endgültig anordnen, sondern nur vorläufig per einstweiliger Anordnung.

3. Hat das Amtsgericht unter Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens eine Haftanordnung im Hauptsacheverfahren erlassen, anstatt vorläufig über die Freiheitsentziehung zu entscheiden, muss es, wenn sich in der Folge ein*e Rechtsanwält*in für die betroffene Person meldet, eine erneute Anhörung unter Beiziehung der Anwältin/des Anwalts durchführen, um den Verfahrensverstoß zu heilen.

4. Die Bestellung von Verfahrenspfleger*innen können die gewünschte Hinzuziehung von Rechtsanwält*innen nicht ersetzen und stehen der Annahme eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens nicht entgegen. Die Aufgabe der Verfahrenspfleger*innen besteht lediglich darin, die verfahrensmäßigen Rechte Betroffener zur Geltung zu bringen, während Rechtsanwält*innen die (rechtlichen) Interessen vollumfänglich wahrzunehmen haben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Akteneinsicht, Rechtsanwalt, Beschwerde, einstweilige Anordnung, Heilung, Verfahrenspfleger, Anhörung, faires Verfahren, Begründungsfrist, Beschwerdebegründung,
Normen: GG Art. 2 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 3, GG Art. 103 Abs. 1, FamFG § 427 Abs. 1, FamFG § 418 Abs. 2, FamFG § 419 Abs. 1
Auszüge:

[...]

7 a) Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Beschwerdegericht unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG über die Beschwerde entschieden hat, weil es die beantragte Akteneinsicht nicht gewährt und die angekündigte Beschwerdebegründung nicht abgewartet hat.

8 aa) Beantragt der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen Einsicht in die Gerichts- und Ausländerakte und kündigt er an, die Beschwerde anschließend zu begründen, darf das Beschwerdegericht die Beschwerde erst zurückweisen, wenn es die Akteneinsicht gewährt und eine für die Begründung des Rechtsmittels angemessene Zeitspanne zugewartet hat (BGH, Beschlüsse vom 19. Juli 2018 - VZB 223/17, InfAuslR 2018, 413 Rn. 7ff.; vom 20. Juli 2021 - XIII ZB 106/19, juris Rn. 7). Dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitenden Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen, welches auch in Abschiebungshaftsachen zu beachten ist, kann dabei durch eine geeignete Verfahrensgestaltung Rechnung getragen werden (BGH, Beschluss vom 19. Juli 2018, aaO Rn. 8). [...]

10 b) Die Entscheidung des Beschwerdegerichts beruht auch auf diesem Verfahrensfehler. Mit der Rechtsbeschwerde macht der Betroffene geltend, er hätte nach gewährter Akteneinsicht eine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren gerügt und eingewandt, dass das Amtsgericht wegen der fehlenden anwaltlichen Vertretung nur eine vorläufige Freiheitsentziehung gemäß § 427 FamFG hätte anordnen dürfen. Mit diesem Einwand hätte die Beschwerde Erfolg gehabt.

11 aa) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Juli 2014 -VZB 32/14, InfAuslR 2014, 442 Rn. 8, vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, Juris Rn. 7; vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 21/19, Juris Rn. 14). Erfährt oder weiß das Gericht, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser von dem Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird; gegebenenfalls ist unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Termin zu bestimmen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2018 - VZB 69/18, InfAuslR 2019, 152 Rn. 5; vom 7. April 2020 – XIII ZB 84/19, Juris Rn. 9f.; vom 15. Dezember 2020 – XIII ZB 28/20, Juris Rn. 16). Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft; es kommt in diesem Fall nicht darauf an, ob die Anordnung der Haft auf diesem Fehler beruht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 - V ZB 59/16, InfAuslR 2017, 292 Rn. 7; vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, Juris Rn. 7).

12 bb) Diesen Maßgaben hat die Verfahrensweise des Amtsgerichts nicht entsprochen.

13 (1) Zwar hat es den im Haftantrag benannten Bevollmächtigten des Betroffenen von dem Anhörungstermin informiert. [...]

14 (2) Nachdem der Betroffene aber die Vollmacht seines Verfahrensbevollmächtigten im Termin gemäß § 11 Satz 5 FamFG, § 87 Abs. 1 ZPO widerrufen und nach der Belehrung über sein Recht, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen, erklärt hatte, er wolle einen Anwalt hinzuziehen, einen Freund um Rat fragen und die Benennung eines Rechtsanwalts nachholen, lag es nunmehr so, dass der Betroffene keinen Anwalt hatte und nach Belehrung keine eindeutige Erklärung abgab. Die protokollierte Erklärung kann nämlich entweder so zu verstehen sein, dass der Betroffene auf sein Recht auf anwaltlichen Beistand bei der Anhörung verzichten und lediglich für den späteren Verfahrensverlauf einen Anwalt hinzuziehen wolle. Sie konnte aber auch bedeuten, dass der Betroffene eine Anhörung nur im Beisein eines Rechtsanwalts wünschte. Das hätte das Amtsgericht aufklären müssen. Es durfte nicht aus dem Umstand, dass der Betroffene weiter an der Anhörung mitwirkte, ohne weiteres auf einen Verzicht schließen. Wenn der Betroffene einen solchen nicht erklären wollte, hätte das Amtsgericht ihm Gelegenheit geben müssen, sich anwaltlichen Beistand zu suchen. Hätte der Betroffene danach einen Rechtsanwalt benannt, hätte dieser zum Termin hinzugezogen werden müssen. Wäre dies nicht möglich gewesen, hätte das Amtsgericht die Haft nicht endgültig, sondern nur im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig (§ 427 FamFG) anordnen dürfen (BGH, Beschlüsse vom 7. April 2020 - XIII ZB 84/19, juris Rn. 10; vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 123/19, InfAuslR 2021, 242 Rn. 12). Dabei hätte es - nachdem der Betroffene keinen zu seiner Vertretung im Anhörungstermin bereiten Rechtsanwalt hatte - die Dauer der einstweiligen Haft so bemessen dürfen, dass für die Suche eines zur Vertretung bereiten Rechtsanwalts ausreichend Gelegenheit bestand.

15 (3) Nachdem das Amtsgericht den Willen des Betroffenen nicht aufgeklärt hat und daher offengeblieben ist, ob der Betroffene einen Anwalt zu seiner Anhörung hinzuziehen wollte, ist zur wirksamen Sicherung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts auf ein faires Verfahren zu vermuten, dass ihm der Zugang zu einem Anwalt verwehrt wurde. [...]

17 cc) Dass dem Betroffenen ein Verfahrenspfleger (§ 418 Abs. 2, § 419 Abs. 1 FamFG) bestellt worden war, steht der Annahme eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens nicht entgegen. Rechtsstellung und Funktion eines Verfahrenspflegers unterscheiden sich grundlegend von derjenigen eines Verfahrensbevollmächtigten. Der Bestellung eines Verfahrenspflegers kommt in Freiheitsentziehungssachen Ausnahmecharakter zu und sie erfolgt unabhängig von den Wünschen des Betroffenen in der Regel nur dann, wenn die Fähigkeit des Betroffenen zur Wahrnehmung seiner Interessen -  etwa aus gesundheitlichen Gründen - beeinträchtigt ist. Bloße sprachliche Verständigungsschwierigkeiten rechtfertigen eine Bestellung nicht. Die Aufgabe des Verfahrenspflegers besteht (lediglich) darin, die verfahrensmäßigen Rechte des Betroffenen zur Geltung zu bringen; dazu gehört insbesondere der Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs (BGH, Beschluss vom 26. September 2013 - V ZB 212/12, FGPrax 2014, 37 Rn. 9 ff.). Demgegenüber ist der Verfahrensbevollmächtigte der berufene unabhängige Berater und Vertreter des Betroffenen (§ 3 Abs. 1 BRAO, § 10 Abs. 2 Satz 1 FamFG), der seine (rechtlichen) Interessen vollumfänglich wahrzunehmen hat. Vor diesem Hintergrund kann die Bestellung eines Verfahrenspflegers die von dem Betroffenen gewünschte Hinzuziehung eines Rechtsanwalts von vornherein nicht ersetzen.

18 c) Eine Heilung des Verfahrensfehlers - die mit Wirkung für die Zukunft möglich gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Februar 2016 - V ZB 23/15, InfAuslR 2016, 235 Rn. 25) - ist weder im Abhilfeverfahren noch in der Beschwerdeinstanz erfolgt. Bereits das Amtsgericht hätte den Betroffenen im Abhilfeverfahren - nach Gewährung von Akteneinsicht - unter Beiziehung seiner Rechtsanwältin erneut anhören müssen. Nachdem das nicht erfolgt war, hätte jedenfalls das Beschwerdegericht die Anhörung durchführen müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2017 - VZB 167/16, juris Rn. 9). [...]