Kein unzulässiger Folgeantrag hinsichtlich Somalias bei erstmaligem Vortrag von Homosexualität:
1. Es bestehen erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger homosexuell sein könnte und daher mit Verfolgung und Diskriminierung in Somalia rechnen müsste. Damit liegt eine veränderte Sachlage vor, so dass ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist.
2. Die Bestimmungen des § 51 Abs. 2 und Abs. 3 VwVfG, wonach veränderte Umstände nur zu beachten sind, wenn sie nicht in einem vorherigen Verfahren hätten vorgebracht werden können und innerhalb von drei Monaten ab Kenntnis vorgetragen werden müssen, stehen dem nicht entgegen. Die Regelungen setzen die Vorgaben der Verfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) nicht hinreichend um bzw. widersprechen dieser.
(Leitsätze der Redaktion)
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Das Bundesamt lehnte den Folgeantrag mit Bescheid vom 16.11.2020, zugestellt am 21.11.2020, als unzulässig ab. [...]
Der Kläger hat am 30.11.2020 Klage erhoben und zunächst auf den Vortrag beim Bundesamt Bezug genommen. Zur weiteren Klagebegründung trug der Kläger vor, er sei homosexuell; die näheren Einzelheiten zu seinen sexuellen Neigungen müssten dem Vortrag in der mündlichen Verhandlung vorbehalten bleiben. Eine Verständigung mit seinem Prozessbevollmächtigten sei nur bruchstückhaft möglich. Der Kläger habe wegen der Umstände auch Bedenken bezüglich des Einsatzes privater Dolmetscher. [...]
Die Klage hat mit dem Hauptantrag Erfolg. Der Bescheid des Bundesamtes vom 16.11.2020 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). [...]
Vorliegend ist eine Änderung der Sachlage gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG gegeben. Der Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu seiner Homosexualität lässt auch eine für in günstige Entscheidung möglich erscheinen. Es kommt ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz in Betracht, wenn man die Erkenntnisse zur Situation Homosexueller in Somalia berücksichtigt. So wäre bei Bekanntwerden einer derartigen sexuellen Orientierung damit zu rechnen, dass das familiäre Umfeld und auch der Bekanntenkreis jeglichen Kontakt abbrechen. Es handelt um ein gesellschaftliches Tabuthema [...]
Aufgrund des Vortrags des Klägers in der mündlichen Verhandlung liegen nunmehr bei zusammenfassender Bewertung erhebliche Anhaltspunkte dafür vor, dass er homosexuell sein könnte - und daher mit entsprechender Verfolgung und Diskriminierung im Heimatland rechnen müsste. [...]
Die Bestimmungen des § 51 Abs. 2 und Abs. 3 VwVfG stehen der Durchführung eines Folgeverfahrens nach Einschätzung der erkennenden Kammer nicht entgegen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes es einer spezifischen Regelung zur Umsetzung der Richtlinie 2013/32 bedürfte, um im nationalen Recht zu regeln, dass ein Folgeantrag nicht auf Gründe gestützt werden könne, die zur Zeit des Verfahrens über den früheren Antrag existierten und in diesem Verfahren durch Verschulden des Antragstellers nicht vorgebracht wurden. An einer derartigen "spezifischen" Übertragung der Vorgaben der Richtlinie könnte es vorliegend fehlen, soweit § 71 AsylG lediglich auf die allgemeinen Regelungen des § 51 Abs. 2 VwVfG verweist. Die Fristregelung in § 51 Abs. 3 VwVfG dürfte im Übrigen kaum in Einklang mit den Vorgaben der Richtlinie 2013/32 stehen.
Abgesehen hiervon unterscheidet sich der Fall des Klägers - soweit ersichtlich - von der Mehrzahl der sonstigen Asylverfahren, dass trotz eines Aufenthalts in Westeuropa seit dem Jahre 2007 scheinbar in keinem Land eine eingehende Befragung des Klägers zu seinen Verfolgungsgründen erfolgte (wobei die Verfahrensakten der niederländischen Behörden dem Gericht nicht vorliegen). [...]