LG Ravensburg

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Zitieren als:
LG Ravensburg, Beschluss vom 10.06.2022 - 7 Qs 24/22 (Asylmagazin 1-2/2023, S. 44) - asyl.net: M30727
https://www.asyl.net/rsdb/m30727
Leitsatz:

Beiordnung im Strafverfahren wegen Ausweisung:

1. Bei ausländischen Staatsangehörigen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, ist eine Pflichtverteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO nicht ausnahmslos und unabhängig vom Gewicht des Verfahrensgegenstands sowie der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage zu bestellen, sondern nur, wenn Beschuldigte im Einzelfall wegen konkreter Einschränkungen der Verteidigungsfähigkeit des Beistands durch eine*n Strafverteidiger*in bedürfen.

2. Droht Angeklagten bei Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz die Ausweisung, so ist ein Fall notwendiger Verteidigung geboten.

3. Wurde eine Person aufgrund des dem Strafverfahren zugrundeliegenden strafrechtlichen Vorwurfs aus der Bundesrepublik ausgewiesen und ein Einreiseverbot angeordnet, folgen daraus eingeschränkte Verteidigungsmöglichkeiten, sodass zumindest unter weiterer Berücksichtigung der fehlenden Sprachkenntnisse die Beiordnung einer Verteidigung zur Sicherstellung der Verteidigungsinteressen und eines fairen Verfahrens notwendig ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausländerstrafrecht, unerlaubter Aufenthalt, Ausweisung, Pflichtverteidiger, Beiordnung, unerlaubte Einreise, Strafverfahren, Rechtsanwalt,
Normen: StPO § 140 Abs. 2, AufenthG § 53 Abs. 1, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Der Antrag des Angeklagten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO begründet, weil die Gesamtschau aller Verfahrensumstände vorliegend die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt.

1. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.

Bei einem ausländischen, nicht der deutschen Sprache mächtigen Beschuldigten ist ein Pflichtverteidiger zwar nicht ausnahmslos und unabhängig vom Gewicht des Verfahrensgegenstands sowie der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage zu bestellen. Vielmehr wird er nur dann beigeordnet, wenn der Beschuldigte im Einzelfall wegen konkreter Einschränkungen seiner Verteidigungsfähigkeit des Beistands eines Verteidigers bedarf [...]. Droht dem Angeklagten bei Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Aufenhaltsgesetz die Ausweisung, so ist ein Fall notwendiger Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO geboten (vgl. LG Berlin, Beschluss vom 4. März 2003 - 516 Qs 45/03 -, juris).

2. Gemessen hieran ist in der Gesamtschau die Pflichtverteidigerbestellung geboten. Der Angeklagte wurde wegen des dem Strafbefehl zugrundeliegenden strafrechtlichen Vorwurfs mit Verfügung der Ausländerbehörde der Stadt Friedrichshafen vom 16. September 2016 gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Zudem wurde ein auf drei Jahre befristetes Einreiseverbot angeordnet. Nach Aktenlage ist die Wiedereinreisesperre mangels Beginns des Fristenlaufs noch gültig. Hieraus ergeben sich - neben der bereits angeordneten schweren Folge der Ausweisung - eingeschränkte Verteidigungmöglichkeiten für den Angeklagten. Sein Akteneinsichtsrecht sowie seine prozessua'len Mitwirkungspflichten sind ihm aufgrund der grundsätzlich untersagten Wiedereinreise erheblich erschwert. Um seine Rechte effektiv wahrnehmen zu können, müsste er eine Betretenserlaubnis gemäߧ 11 Abs. 8 AufenthG beantragen (vgl. hierzu: OLG Stuttgart, Beschluss vom 3. August 2004 - 1 Ss 132/04 -; LG Görlitz, Beschluss vom 19. Juli 2021 - 3 Qs 125/21 -, juris). Unter weiterer Berücksichtigung seiner fehlenden Kenntnisse der deutschen Sprache ist die Beiordnung eines Verteidigers zur Sicherstellung der Verteidigungsinteressen und eines fairen Verfahrens daher notwendig. [...]