VerfGH Sachsen

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Zitieren als:
VerfGH Sachsen, Beschluss vom 12.05.2022 - Vf. 8-IV-22 - asyl.net: M30724
https://www.asyl.net/rsdb/m30724
Leitsatz:

Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei Ablehnung als offensichtlich unbegründet:

1. Dem Sächsischen Verfassungsgerichtshof kommt nach der grundgesetzlichen Kompetenzordnung nicht die Aufgabe zu, Entscheidungen von Verwaltungsgerichten, die einen auf Grundlage von Bundesrecht ergangenen Bescheid einer Bundesbehörde für materiell rechtmäßig erachten, an der sächsischen Verfassung zu messen. Hier rügt die Beschwerdeführerin jedoch die Verletzung eines Verfahrensgrundrechts durch ein Landesgericht, nämlich des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 38 S. 1 SächsVerf, was durch den Sächsischen Verfassungsgerichtshof überprüft werden kann.

2. Steht - wie im Fall der Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet - nur eine Instanz zur Verfügung, verstärkt dies die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Verfahrens im Hinblick auf effektiven Rechtsschutz.

3. Die Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet setzt voraus, dass an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Abweisung der Klage dem Verwaltungsgericht geradezu aufdrängt. Aus den Entscheidungsgründen muss sich zudem klar ergeben, warum die Klage nicht nur als schlicht unbegründet, sondern als offensichtlich unbegründet abgewiesen worden ist.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerfG, Beschluss vom 25.04.2018 - 2 BvR 2435/17 - Asylmagazin 9/2018, S. 313 ff. - asyl.net: M26246)

Schlagwörter: Asylverfahren, offensichtlich unbegründet, effektiver Rechtsschutz, rechtliches Gehör, Roma, Russische Föderation, Landesverfassungsgericht, Sachsen
Normen: SächsVerf Art. 38 S. 1, SächsVerf Art. 16 Abs. 1 S. 1, GG Art. 19 Abs. 4, AsylG § 78 Abs. 1 S. 1, AsylG § 30 Abs. 2, AsylG § 30 Abs. 1, AsylG § 30 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 20. Dezember 2021 (1 K 1100/21.A) verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 38 Satz 1 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 Satz 1 SächsVerf. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Dresden zurückverwiesen. [...]

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 20. Dezember 2021 verletzt den Anspruch der Beschwerdeführerin auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 38 Satz 1 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 Satz 1 SächsVerf. [...]

a) Art. 38 Satz 1 SächsVerf stellt einen tauglichen Prüfungsmaßstab dar. Zwar hat sich der Sächsische Verfassungsgerichtshof nach der grundgesetzlichen Kompetenzordnung (dazu BVerfG, Beschluss vom 15. Oktober 1997, BVerfGE 96, 345 [357 f.]) jeder Kontrolle der Bundesstaatsgewalt jedenfalls dann zu enthalten, wenn deren Entscheidung auf Bundesrecht beruht (SächsVerfGH, Beschluss vom 17. September 1998 – Vf. 21-IV-98). Deshalb kann ihm auch nicht zukommen, Entscheidungen von Verwaltungsgerichten an der Sächsischen Verfassung zu messen, die einen auf der Grundlage von Bundesrecht ergangenen Bescheid einer Bundesbehörde als materiellrechtlich zutreffend erachten (SächsVerfGH, Beschluss vom 27. April 2017 – Vf. 165-IV-16). Anderenfalls käme es zu einer mittelbaren Überprüfung des Verhaltens von Bundesbehörden (zum Vorgenannten SächsVerfGH, Beschluss vom 17. September 1998 – Vf. 21-IV-98). So liegt der Fall indes hier nicht: Mit Art. 38 Satz 1 SächsVerf rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung eines Verfahrensgrundrechts durch ein Landesgericht – namentlich des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz; Verfahrensgrundrechte können im Wege der Verfassungsbeschwerde durch den Verfassungsgerichtshof überprüft werden (SächsVerfGH, Beschluss vom 24. April 2020 – Vf. 11-IV-20 [HS]; vgl. hierzu auch BayVerfGH, Entscheidung vom 22. Februar 2017 – Vf. 82-VI-15 – juris Rn. 20; Entscheidung vom 20. November 2019 – Vf. 2-VI-19 – juris Rn. 19). [...]

aa) Art. 38 Satz 1 SächsVerf garantiert demjenigen Rechtsschutz, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt ist. Dabei gewährleistet die Verfassung nach Art. 38 Satz 1 SächsVerf nur das Offenstehen des Rechtswegs, also die Öffnung des Zugangs zum Gericht. [...]

Die Verfassung beschränkt sich nicht auf die Einräumung der Möglichkeit, die Gerichte gegen Akte der öffentlichen Gewalt anzurufen, sondern gewährleistet einen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes verlangt nicht nur, dass jeder potentiell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der richterlichen Prüfung unterstellt ist; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen. [...]

Ein Instanzenzug kann zwar nicht beansprucht werden. Steht aber – wie im Fall der Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet (§ 78 Abs. 1 AsylG) – nur eine Instanz zur Verfügung, so verstärkt dies die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Verfahrens (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. April 2018 – 2 BvR 2435/17 – juris Rn. 17; Beschlüsse vom 7. November 2008 – 2 BvR 629/06 – juris Rn. 12 und vom 22. Oktober 2008 – 2 BvR 1819/07 – juris Rn. 11; Beschluss vom 20. Dezember 2006 – 2 BvR 2063/06 – juris Rn. 12; st. Rspr.).

Die Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet – mit der gravierenden Folge des Ausschlusses weiterer gerichtlicher Nachprüfung – setzt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voraus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 77 Abs. 1 AsylG) an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung in Rechtsprechung und Lehre die Abweisung der Klage dem Verwaltungsgericht geradezu aufdrängt. Aus den Entscheidungsgründen muss sich zudem klar ergeben, weshalb das Gericht zu einem Urteil nach § 78 Abs. 1 AsylG kommt, warum somit die Klage nicht nur als schlicht unbegründet, sondern als offensichtlich unbegründet abgewiesen worden ist. [...]

Die schlichte Behauptung, die Klage sei offensichtlich unbegründet, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 2019 – 2 BvR 1193/18 – juris Rn. 19 m.w.N.). [...]