OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12.11.2021 - 2 M 132/21 - asyl.net: M30723
https://www.asyl.net/rsdb/m30723
Leitsatz:

Beschäftigungserlaubnis für Ausbildung im Eilverfahren bei Identitätstäuschung in der Vergangenheit:

1. Für die Ausbildung einer geduldeten Person kann eine Beschäftigungserlaubnis erteilt werden, ohne dass gleichzeitig die Erteilung einer Ausbildungsduldung gemäß § 60c Abs. 1 AufentG beantragt wurde.

2. Sofern - wie hier - kein Versagungsgrund gemäß § 60a Abs. S. 1 AufenthG vorliegt, steht die Erteilung einer Arbeitserlaubnis für eine geduldete Person gemäß § 32 BeschV grundsätzlich im Ermessen der Behörde. Dabei darf eine in der Vergangenheit liegende Identitätstäuschung nicht berücksichtigt werden und ist angesichts des Gesetzeszwecks (Entlastung öffentlicher Kassen und Gewinnung von Fachkräften) von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen, sodass ein Anspruch auf Erteilung der Beschäftigungserlaubnis besteht.

3. Zur Anerkennung gambischer Pässe, die in Abwesenheit ausgestellt worden sind (sog. Proxy-Pass).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausbildungsduldung, Beschäftigungserlaubnis, Arbeitserlaubnis, deutsches Kind, Identitätstäuschung, Gambia, Proxy-Pass, Identitätsklärung, vorläufiger Rechtsschutz, Ermessensreduzierung auf Null,
Normen: AufenthG § 4a Abs. 4, AufenthG § 60a Abs. 6 S. 1, AufenthG § 60c Abs. 1 S. 1, BeschV § 32 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

1. Mit dem vorliegenden Antrag verfolgt der Antragsteller entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht das Ziel, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur Erteilung einer Ausbildungsduldung nach § 60c Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu verpflichten. Der beim Verwaltungsgericht gestellte Antrag ist - wie der Antragsteller in der Beschwerde zu Recht rügt - nach seinem klaren Wortlaut auf die Verpflichtung zur Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis gerichtet.

Dem steht nicht entgegen, dass die vom Antragsteller angestrebte Beschäftigung bei der Fa. ... eine Ausbildung zum Fachinformatiker Systemintegration beinhaltet, für die (auch) eine Ausbildungsduldung nach § 60c Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt werden könnte. Es ist einem Ausländer, der - etwa wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG - bereits im Besitz einer Duldung ist oder einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach dieser Vorschrift hat, nicht verwehrt, lediglich die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis für die beabsichtigte Berufsausbildung zu beantragen, etwa weil fraglich ist, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausbildungsduldung nach § 60c AufenthG vorliegen. [...]

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung, um wesentliche Nachteile abzuwenden, drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die Voraussetzungen für den Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung liegen vor. [...]

a) Anspruchsgrundlage für die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis an geduldete Ausländer ist - wie oben bereits ausgeführt - § 4a Abs. 4 i.V.m. § 42 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG und § 32 BeschV.

aa) Ein zwingender Versagungsgrund nach § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG liegt voraussichtlich nicht vor. [...]

bb) Die Erteilung der Beschäftigungserlaubnis für Ausländer mit einem Anspruch auf Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG liegt allerdings, soweit die zwingenden Versagungsgründe des § 60a Abs. 6 AufenthG nicht vorliegen, im pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörde; einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis hat der Gesetzgeber nur in § 60c Abs. 1 Satz 3 AufenthG für den Fall der Ausbildungsduldung vorgesehen [...]

Im vorliegenden Fall spricht jedoch überwiegendes dafür, dass sich das Ermessen des Antragsgegners zugunsten einer Erteilung "auf Null" reduziert hat mit der Folge, dass dem Antragsteller eine Beschäftigungserlaubnis erteilt werden muss. Ein Ablehnungsgrund, der nach Ausräumung des gesetzlichen Versagungsgrundes gemäß § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 AufenthG eine negative Ermessensentscheidung noch tragen könnte, ist nicht ersichtlich. Das ermöglicht hier ausnahmsweise eine zusprechende Eilentscheidung.

(1) Zwar wird man den Umstand, dass der Ausländer seinen Mitwirkungspflichten - etwa bei der Passbeschaffung - nicht hinreichend nachgekommen ist, im Rahmen des Ermessens zu seinem Nachteil berücksichtigen können. [...]

Auch eine fehlende Klärung der Identität mag ein Umstand sein, der im Rahmen der Ermessensausübung zu Lasten des Ausländers berücksichtigt werden kann. [...]

Dem Antragsteller dürfte aber weder eine Verletzung der Mitwirkungspflicht bei der Beschaffung eines Passes noch eine fehlende Klärung seiner Identität vorzuhalten sein.

Er hat am 28. Mai 2018 einen am ... 2018 in Gambia in seiner Abwesenheit ausgestellten Reisepass vorgelegt, der nach den Feststellungen des BAMF und der Bundespolizei keine Fälschungsmerkmale erkennen lässt. Nach einer Auskunft des Auswärtigen Amts vom 22. Juli 2019 an das BAMF stellt die Republik Gambia Proxy-Pässe aus und erkennt diese an. Solche in Abwesenheit des Inhabers in Gambia ausgestellte Pässe dürften auch nach der auf der Grundlage von § 71 Abs. 6 AufenthG erlassenen Allgemeinverfügung des Bundesministeriums des Innern über die Anerkennung eines ausländischen Passes oder Passersatzes vom 6. April 2016 (BAnz AT vom 25. April 2016 B1) anerkannt sein. [...]

Zwar können sich ungeachtet der (grundsätzlichen) Anerkennung von in Gambia ausgestellten Proxy-Pässen im Einzelfall Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit eines solchen Passes ergeben, insbesondere wenn er lediglich auf der Grundlage einer Geburtsurkunde erstellt worden ist [...].

Diese Zweifel dürfte der Antragsteller aber durch die Vorlage weiterer Unterlagen ausgeräumt haben. Nach der Auskunft der gambischen Botschaft in Brüssel vom 9. April 2019 (Bl. 316 des Verwaltungsvorgangs) bestehen keine Zweifel an der Identität des Antragstellers. Mit E-Mail vom 18. Mai 2020 legte der Antragsteller dem Antragsgegner Kopien einer "National Identity Card" (Personalausweis), einer "Voter ID-Card" (Wahlberechtigungskarte), eines "Certificate of Character" (Führungszeugnis) sowie Schulzeugnisse vor, die jeweils auf seinen Namen ausgestellt wurden (Bl. 488 ff. des Verwaltungsvorgangs). Den Personalausweis, die Wahlberechtigungskarte und das Führungszeugnis, die er in Kopie der Beschwerde nochmals beigefügt hat, hat er dem Antragsgegner am 5. Oktober 2021 im Original übergeben. [...]

(2) Eine in der Vergangenheit liegende Identitätstäuschung kann hingegen im Rahmen der nach §§ 4a Abs. 4 AufenthG i.V.m. § 32 BeschV zu treffenden Ermessensentscheidung über die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nicht berücksichtigt werden. Denn andernfalls könnten die Voraussetzungen für ein Beschäftigungsverbot gemäß § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG, welches - wie ausgeführt - Gründe voraussetzt, die derzeit den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen hindern, durch eine negative Ermessensentscheidung umgangen werden. [...]

(3) Soweit teilweise die Auffassung vertreten wird, die Ausländerbehörde könne grundsätzlich im Rahmen ihres Ermessens aus einwanderungspolitischen Gründen den Aufenthalt eines geduldeten Ausländers so ausgestalten, dass eine seine spätere Entfernung aus dem Bundesgebiet u.U. hindernde Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse vermieden wird, um nach Wegfall des Abschiebungsverbots eine Ausreisepflicht durchsetzen zu können [...], vermag der Senat dem nicht zu folgen. Vielmehr wird die Verhinderung einer Verfestigung des Aufenthalts nach Ablauf der Wartezeit von drei Monaten gemäß § 32 Abs. 1 BeschV regelmäßig kein zulässiger Ermessensgesichtspunkt mehr sein […].

Im Vordergrund der Regelung des § 32 BeschV steht vielmehr das Entlastungsinteresse der öffentlichen Kassen. Dem Steuerzahler soll prinzipiell nicht zugemutet werden, Fürsorgeleistungen für erwerbsfähige Personen zu finanzieren, solange diese ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können (und wollen) [...]. Darüber hinaus dient die Regelung der Gewinnung und Sicherung von Fachkräften. [...]