Keine Verfolgungsgefahr im Iran für Personen, die nach Konversion ihre Religion unauffällig ausüben:
1. Es ist nicht anzunehmen, dass die Konversion zum Christentum von iranischen Staatsangehörigen mit ursprünglich schiitischer Religionszugehörigkeit schon für sich genommen eine begründete Furcht vor Verfolgung rechtfertigt. Maßgeblich für die Verfolgungsgefahr ist vielmehr, wie sich die betreffende Person im Iran verhält und inwieweit die Konversion nach außen erkennbar ist.
2. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unterliegen Personen, die konvertiert sind, einer Verfolgung wegen ihrer Religion, wenn sie ihren christlichen Glauben öffentlich verkünden, unterrichten oder missionieren. Gleiches kann nach den Umständen des Einzelfalls für konvertierte Personen gelten, die noch aus anderen Gründen die Aufmerksamkeit der staatlichen Behörden im Iran erregen. Die Konversion zum praktizierten Christentum kann dann gefahrerhöhend wirken.
3. Personen, die ihren Glauben als persönliche Angelegenheit verstehen und ihre Religion nicht öffentlich ausdrücken oder andere missionieren wollen, werden ihren Glauben mit großer Wahrscheinlichkeit im privaten Rahmen auch in Iran praktizieren können. Das gilt im Regelfall auch für die kollektive Religionsausübung als einfaches Mitglied einer Hauskirche. In einem solchen Fall ist aber zu prüfen, ob Betroffene ihre Religion aus persönlichen Gründen oder aber aus nachvollziehbarer Furcht vor Verfolgung nur unauffällig ausüben.
(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: OVG Thüringen, Urteil vom 28.05.2020 - 3 KO 590/13 - asyl.net: M29394)
Die Entscheidungen der OVG Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen stehen offenbar im Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH und BVerwG, da sie eine unzulässige Unterscheidung zwischen der Ausübung der Religion im privaten und im öffentlichen Bereich machen (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012 - C-71/11; C-99/11 Deutschland gg. Y, Z - asyl.net: M19998; BVerwG, Urteile vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - asyl.net: M20535, 10 C 20.12 - asyl.net: M22159, (Asylmagazin 5/2013, S. 161 ff.).
[...]
36 Die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung i.S.v. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie (EU) 2011/95 zu erfüllen, hängt von objektiven und subjektiven Gesichtspunkten ab. Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr. [...]
40 bb) Die Situation von zum christlichen Glauben konvertierten iranischen Staatsangehörigen stellt sich nach Auswertung der vorhandenen Erkenntnisquellen wie folgt dar:
41 Der schiitische Islam ist in Iran Staatsreligion. Die in der iranischen Verfassung anerkannten "Buchreligionen" (Christentum, Judentum, Zoroastrismus) dürfen ihren Glauben innerhalb ihrer Gemeinde ausüben. Soweit ethnische Christen die Ausübung ihres Glaubens ausschließlich auf die Angehörigen der eigenen Gemeinden beschränken, werden sie kaum behindert oder verfolgt. Die Konversion von schiitischen Muslimen ist jedoch verboten und kann, wie auch Missionstätigkeit unter Muslimen, eine Anklage wegen Apostasie und schwerste Sanktionen bis hin zur Todesstrafe nach sich ziehen. In der Regel lautet die Anklage jedoch auf "Gefährdung der nationalen Sicherheit", "Organisation von Hauskirchen" und "Beleidigung des Heiligen", um die Anwendung des Scharia-Rechts und damit die Todesstrafe wegen Apostasie zu vermeiden. In der Praxis werden kaum mehr Verurteilungen wegen Apostasie registriert, die einzige Hinrichtung eines Christen wegen Apostasie fand im Jahr 1990 statt. Fälle von Konversion gelten als politische Handlung und Angelegenheit der nationalen Sicherheit und werden vor den Revolutionsgerichten verhandelt. Konvertiten sind willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt. Anerkannten ethnischen Gemeinden ist es untersagt, Christen mit muslimischem Hintergrund zu unterstützen. Gottesdienste in Persisch sind verboten, ebenso die Verbreitung christlicher Schriften. Unter besonderer Beobachtung stehen insbesondere hauskirchliche Vereinigungen, die de facto untersagt sind und deren Versammlungen regelmäßig aufgelöst und deren Angehörige gelegentlich festgenommen werden. Trotzdem nimmt die Konversion zum sunnitischen Islam und zum Christentum weiter zu. Hauskirchen sind weit verbreitet. Ob der Staat gegen Hauskirchen vorgeht, hängt auch von deren Größe und Aktivität ab. Unter den Christen im Iran stellen Konvertiten aus dem Islam mit schätzungsweise mehreren Hunderttausend inzwischen die größte Gruppe dar, noch vor den Angehörigen traditioneller christlicher Kirchen (Auswärtiges Amt, 28.01.2022, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Iran, S. 9 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 22.12.2021, Länderinformation der Staatendokumentation Iran, S. 51 ff.). Andere Quellen schätzen die Zahl konvertierten Christen in Iran auf bis zu 3 Millionen oder 1 bis 1,5 Prozent der Bevölkerung (Immigration and Refugee Board of Canada, 09.03.2021, Iran: Situation and treatment of Christians by society and the authorities, S. 1 f.).
42 Christliche Konvertiten genießen keine Bekenntnisfreiheit. Gottesdienste von zugelassenen christlichen Kirchen werden auf die Teilnahme von konvertierten Christen hin kontrolliert. Christliche Kirchen und ihre Mitglieder müssen sich registrieren lassen. Die Konversion zum Christentum wird staatlicherseits nicht anerkannt. Am 18. Februar 2021 wurden Änderungen zu Artikel 499 und 500 des iranischen Strafgesetzbuches in Kraft gesetzt.
43 Bestraft werden danach Beschimpfungen von in der Verfassung anerkannten Religionen und die Ausübung von erzieherischen oder bekehrenden Tätigkeiten, die im Widerspruch zum Islam stehen. Strafrechtliche Vorschriften wie diese sind oftmals vage formuliert und weit auslegbar. Der Oberste Gerichtshof in Teheran stellte mit einem am 24. November 2021 veröffentlichten Richterspruch die Strafbarkeit christlicher Glaubenspraxis u.a. in Form von Hauskirchen in Frage. Das Gericht urteilte in einem Revisionsverfahren, dass die Ausübung christlicher Mission und die Gründung von Hauskirchen keine Straftatbestände im Sinne der Art. 498 und 499 des iranischen Strafgesetzbuches und somit keine Aktionen gegen die nationale Sicherheit im Inneren sowie außerhalb Irans darstellen. Andererseits berichten christliche Organisationen und iranische Auslandsmedien, dass der Oberste Gerichtshof einen auf diese Entscheidung gestützten Antrag auf Revision eines Urteils, in dem gegen zwei zum Christentum konvertierte Personen Haftstrafen ausgesprochen wurden, zurückgewiesen hat. Die Strafverfolgungspraxis ist insgesamt uneinheitlich und orientiert sich zum Teil an der Scharia. Die private Glaubensbetätigung ist für die staatlichen Behörden dabei weniger von Interesse. Verfolgung hat vor allem zu befürchten, wer öffentlich für das Christentum wirbt oder andere zu missionieren versucht. Es kommt aber auch wegen der gemeinsamen Nutzung von Privatwohnungen zur Religionsausübung (sog. Hauskirchen oder Hausgemeinden) und wegen des Kontakts zu "feindlichen Ländern" (etwa zu ausländischen Predigern) zu Verhaftungen und Anklagen bei konvertierten Christen. Konvertiten zum Christentum, die ihren Glauben offen praktizieren, sind einem hohen Risiko gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt, falls ihre Konversion bekannt wird, insbesondere wenn sie aus eher religiös geprägten muslimischen Familien stammen (EASO, 20.12.2021, Religious Freedom and conversion, S. 3 ff.; USCIRF, 01.08.2021, Religious Freedom Conditions in Iran, S. 1; Immigration and Refugee Board of Canada, 09.03.2021, Iran: Situation and treatment of Christians by society and the authorities, S. 3; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 13.12.2021, Briefing Notes, S. 6 f.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 21.02.2022, Briefing Notes, S. 5).
44 Obwohl es vielfach Berichte über Inhaftierung und Strafverfolgung von konvertierten Christen gibt, ist die Zahl der staatlichen Maßnahmen im Verhältnis zur Zahl der Konvertiten gering. Verfolgt werden vor allem die Leiter und Organisatoren der Hauskirchen, was darauf hindeutet, dass es der iranischen Regierung vor allem darum geht, die Ausbreitung des Christentums einzudämmen, während für eine Überwachung aller konvertierten Iraner nicht genügend Ressourcen vorhanden sind. Die Überwachung von Hauskirchen erfolgt unter Einsatz von Informanten und Razzien. Auch soziale Medien und Internetaktivitäten werden beobachtet. Der Umstand der Konversion an sich führt noch nicht zu einer ernsthaften Verfolgungsgefahr. Gefährdet sind Konvertiten dann, wenn die betreffenden Personen den iranischen Behörden wegen unterrichtender oder missionierender Tätigkeiten auffallen oder aus noch weiteren Gründen gesucht werden. Einfache Teilnehmer an Hauskirchen werden in der Regel nur kurzzeitig festgenommen und mit der Auflage entlassen, sich von christlichen Aktivitäten fernzuhalten und ggf. regelmäßig zu melden (UK Home Office, 26.02.2020, Country Policy and Information Note. Iran: Christians and Christian converts, S. 7 f., 18, 21; Immigration and Refugee Board of Canada, 09.03.2021, Iran: Situation and treatment of Christians by society and the authorities, S. 6).
45 cc) Ausgehend von diesen tatsächlichen Feststellungen lässt sich nicht annehmen, dass die Konversion zum Christentum einen iranischen Staatsangehörigen mit ursprünglich schiitischer Religionszugehörigkeit schon für sich genommen einer begründeten Furcht vor Verfolgung aussetzt. Maßgeblich für das Maß der Verfolgungsgefahr ist vielmehr, wie sich der Betreffende in Iran verhält und inwieweit die Konversion nach außen erkennbar ist. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unterliegen Konvertiten einer Verfolgung wegen ihrer Religion, wenn sie ihren christlichen Glauben öffentlich verkünden, unterrichten oder missionieren. Gleiches kann nach den Umständen des Einzelfalls für konvertierte Personen gelten, die noch aus anderen Gründen die Aufmerksamkeit der staatlichen Behörden in Iran erregen. Die Konversion zu einem praktizierten Christentum kann dann gefahrerhöhend wirken. Personen, die ihren Glauben als persönliche Angelegenheit verstehen und ihre Religion nicht öffentlich ausdrücken oder andere missionieren wollen, werden ihren Glauben mit großer Wahrscheinlichkeit im privaten Rahmen dagegen auch in Iran praktizieren können. Das gilt im Regelfall auch für die kollektive Religionsausübung im Rahmen einer Hauskirche als einfaches Mitglied. Eine beachtliche Verfolgungsgefahr allein wegen dieses Umstands lässt sich für diesen Personenkreis nach den ausgewerteten Erkenntnisquellen nicht feststellen. In einem solchen Fall ist aber zu prüfen, ob der Betreffende seine Religion aus persönlichen oder sozialen Gründen oder aus nachvollziehbarer Furcht vor Verfolgung nur unauffällig ausübt (vgl. zum Teil weitergehend OVG Bautzen, Urt. v. 30.11.2021 – 2 A 488/19.A –, juris Rn. 44 ff. im Anschluss an OVG Münster, Urt. v. 07.06.2021 – 6 A 2115/19.A –, Rn. 78 ff., OVG Hamburg, Urt. v. 08.11.2021 – 2 Bf 539/19.A –, juris Rn. 51 ff.). [...]
49 Der Kläger zu 1. gab an, bereits im Iran bei einem armenischen Arbeitskollegen die christliche Religion kennengelernt und sich dieser zugewandt zu haben. Der Vortrag des Klägers zu 1. blieb insoweit jedoch stereotyp und farblos, zumal er auch zu seiner religiösen Erziehung und Praxis bis zu diesem Zeitpunkt kaum Auskunft geben konnte und nicht der Eindruck entstand, dass Religion für ihn überhaupt von besonderer Bedeutung war. Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass der Kläger zu 1. in Deutschland Gottesdienste besucht, an verschiedenen gemeindlichen Veranstaltungen teilnimmt und sich seiner Gemeinde verbunden fühlt. Es geht aber davon aus, dass der Kläger zu 1. dort vor allem die soziale Zugehörigkeit und Gemeinschaft schätzt und eine entsprechende identitätsprägende religiöse Überzeugung nicht vorliegt. [...]
51 Für die Klägerin zu 4. schließlich konnte das Gericht keine identitätsprägende Konversion zum Christentum feststellen. Die Klägerin zu 4. gab in der mündlichen Verhandlung selbst an, dass ihre religiöse Identität noch nicht endgültig ausgebildet worden ist, sie durchaus Zweifel an ihrem Weg hat und diesen als noch nicht beendet ansieht und auch deshalb noch nicht getauft worden ist. Erst der formale Akt der Taufe stellt jedoch die nach außen erkennbare Manifestation der Konversion zum christlichen Glauben dar. Ein auf einer festen Überzeugung und einem ernstgemeinten religiösen Einstellungswandel beruhender Glaubenswechsel, der nunmehr die religiöse Identität der Klägerin zu 4. prägt, lässt sich nach alledem bisher nicht annehmen. Zudem lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass die Klägerin zu 4. im Iran den christlichen Glauben in einer Weise ausüben würde, die sie einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr aussetzen bzw. aus einer ernsthaften Verfolgungsfurcht heraus auf eine solche Glaubensbetätigung verzichten würde. [...]