VG Greifswald

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Zitieren als:
VG Greifswald, Urteil vom 10.03.2022 - 3 A 2070/20 HGW - asyl.net: M30671
https://www.asyl.net/rsdb/m30671
Leitsatz:

Kein internationaler Schutz, aber Abschiebungsverbot für alleinstehenden Mann aus Afghanistan:

1. Keine Flüchtlingsanerkennung für Angehörigen der ethnischen Minderheit der Hazara. In Afghanistan droht mangels hinreichender Verfolgungsdichte weiterhin keine Gruppenverfolgung der Hazara.

2. Die Zuerkennung subsidiären Schutzes kommt nicht in Betracht, da es bezüglich der schlechten humanitären Bedingungen an einem erforderlichen verantwortlichen Akteur fehlt. Da es seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan keinen innerstaatlichen, bewaffneten Konflikt gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG mehr gibt, droht auch insofern kein ernsthafter Schaden.

3. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG ist festzustellen, denn aufgrund der aktuellen Lage in Afghanistan droht auch jungen, gesunden, alleinstehenden Männern regelmäßig eine unmenschliche Behandlung nach Art. 3 EMRK wegen drohender Verelendung, wenn keine besonderen Umstände gegeben sind, die eine Existenzsicherung ermöglichen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, Hazara, Gruppenverfolgung, konfessionslos, Konvertiten,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

43 Eine drohende Verfolgung wegen der darüber hinaus angegebenen Konfessionslosigkeit behauptet schon der Kläger nicht ("Ich kann nach Afghanistan wegen meiner persönlichen Probleme nicht zurück, aber nicht wegen meiner Konfessionslosigkeit."). Eine identitätsprägende Abkehr vom Islam ist nicht dargelegt. Objektive Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland eine atheistische Weltanschauung leben und praktizieren wird, vermag auch das Gericht nicht zu erkennen. Der Kläger will nach eigenen Angaben weder andere bezüglich der Abkehr von Religionen überzeugen, noch störe er sich selbst an der Religionsausübung anderer. Es ist ihm ersichtlich kein Bedürfnis, die angegebene Konfessionslosigkeit offen zu leben. Er habe lediglich auf die Frage nach der Religionszugehörigkeit auf dem Fragebogen des Bundesamtes antworten wollen. Diese habe er verneint, weil er seit zwei bis drei Jahren alles sinnlos finde, an nichts mehr glaube, auch nicht mehr an sich selbst.

44 cc) Eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht dem Kläger ferner nicht etwa deshalb, weil er der Volksgruppe der Hazara angehört. [...]

46 Nach derzeitiger Auskunftslage kann eine sog. Gruppenverfolgung der Hazara nicht angenommen werden. Das Vorliegen einer Gruppenverfolgung der Hazara in Afghanistan wurde bislang durch die – soweit ersichtlich – einhellige Rechtsprechung verneint, da es an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte fehlte [...]. Angesichts der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ist für die Volksgruppe der Hazara, welcher der Kläger angehört, auch derzeit eine Gruppenverfolgung nicht feststellbar. Insbesondere kann nicht von einer Verfolgung der gesamten Volksgruppe ausgegangen werden. Auch unter Berücksichtigung der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im Sommer 2021 und der stark zugenommenen Anschläge des sogenannten "Islamischen Staates der Khorasan Provinz" (ISKP) gegen die schiitische Minderheit der Hazara ist eine für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte nicht gegeben. [...]

50 Angesichts vorstehender Ausführungen und auch im Hinblick auf die im Verhältnis zur Gesamtzahl der in Afghanistan lebenden Hazara nicht ausreichend gewichtigen Anzahl ist insgesamt trotz der dargestellten Vielzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle zum Nachteil von Hazara nicht festzustellen, dass über eine "nur" potentielle Gefährdung hinaus ein Grad erreicht wäre, der die Feststellung zuließe, dass grundsätzlich die gesamte Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Ein- bzw. Angriffen betroffen wäre. Selbst unter Berücksichtigung einer zu der verifizierten Anzahl toter und verletzter Zivilpersonen hinzutretenden Dunkelziffer ist das Gericht unter Zugrundelegung der vorstehenden Ausführungen derzeit nicht davon überzeugt, dass jeder Angehörige der ethnischen Gruppe der Hazara, die allein in der Stadt Kabul mehr als eine Million Einwohnerinnen und Einwohner ausmachen, ständig und aktuell einer Gefahr von Leib, Leben oder persönlicher Freiheit ausgesetzt ist. [...]

51 Über die weiteren Entwicklungen in Afghanistan und die Politik der Taliban gegenüber den Hazara lässt sich derzeit nur spekulieren. Sollte eine weitere Verschlechterung der Sicherheitslage für die Angehörigen der Volksgruppe der Hazara eintreten, kann der Kläger das ggf. in einem Folgeantrag nach § 71 AsylG gegenüber der Beklagten geltend machen. [...]

55 b) Er hat zudem keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG aufgrund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan. Es fehlt jedenfalls an einem nach § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c AsylG notwendigen verantwortlichen Akteur für diese Bedingungen. [...]

57 Der Schaden geht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dann von einem dieser Akteure aus, wenn die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch dessen Verhalten verursacht und nicht bloß die Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten im Herkunftsstaat ist (vgl. EuGH, Urt. v. 18. Dezember 2014, Az. C–542/13 – juris, Rn. 35). [...]

58 An einem erforderlichen verantwortlichen Akteur für die schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan fehlt es (vgl. VG Cottbus, Urt. v. 3. November 2021, Az. 8 K 306/17.A – juris, Rn. 18, zur Situation vor der Machtübernahme durch die Taliban: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Urt. v. 25. März 2021, Az. 1 Bf 388/19.A – juris, Rn. 51 sowie OVG Bremen, Urt. v. 12. Februar 2020, Az. 1 LB 305/18 – juris, Rn. 48 jeweils m. w. N.). Zwar hatte der langandauernde militärische Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den westlichen Verbündeten auf der einen Seite und den Taliban auf der anderen Seite negative Auswirkungen auf die humanitären Bedingungen in Afghanistan. Den Erkenntnismitteln kann jedoch nicht entnommen werden, dass die Taliban bewusst eine Verschlechterung der humanitären Bedingungen herbeiführen wollten bzw. wollen. [...]

59 c) Dem Kläger droht auch keine individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Bei der wertenden Gesamtbetrachtung der Sicherheitslage in Afghanistan ist im Hinblick auf die allgemeine Gefahrendichte (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 20. Mai 2020, Az. 1 C 11/19 – juris, Rn. 19) im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu sehen, dass einhergehend mit dem Abzug der internationalen Kampftruppen aus Afghanistan und darüber hinaus seit dem 16. August 2021 durch die Übernahme der (faktischen) Regierungsgewalt und der Gebietskontrolle durch die Taliban unter Beendigung der Kampfhandlungen zwischen den Taliban und den afghanischen Sicherheitskräften, die allgemeine Gefahrendichte nach dem 16. August 2021 in Afghanistan "schlagartig" extrem abgenommen hat. Seit dem 16. August 2021 gibt es folglich keinen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt mehr in Afghanistan [...].

60 3. Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK in Bezug auf Afghanistan. [...]

64 aa) Schon vor der Machtübernahme durch die Taliban war der Arbeitsmarkt durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformationsblatt Afghanistan, 16. September 2021, S. 93): So befanden sich 80% der afghanischen Arbeitskräfte in "prekären Beschäftigungsverhältnissen" mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen. [...] Es war schon vor der Machtübernahme durch die Taliban selbst für hoch qualifizierte und ausgebildete Arbeitskräfte ohne persönliche Beziehungen und ein Netzwerk schwierig, in Afghanistan eine Beschäftigung zu erlangen (vgl. EASO, Country of Origin Information Report, Afghanistan Networks, 1. Februar 2018, S. 27). [...]

66 Seit der Machtübernahme der Taliban hat sich der Zugang zum afghanischen Arbeitsmarkt dramatisch verschlechtert. [...]

67 Die Machtübernahme durch die Taliban hat zu einer massiven Abwanderung eines wesentlichen Teils der gebildeten Elite geführt, da diese geflüchtet ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Stand: 31. Oktober 2021, S. 21). Frauen wurden mit der Begründung der prekären Sicherheitslage weitgehend aus dem Arbeitsmarkt verdrängt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Stand: 31. Oktober 2021, S. 22). [...]

75 bb) Seit der Machtübernahme durch die Taliban befindet sich Afghanistans Wirtschaftslage nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes aufgrund der Folgen der Covid-19-Pandemie, der anhaltenden Dürreperioden sowie der bereits angespannten Wirtschaftslage in Folge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage Afghanistans, 22. Oktober 2021, S. 14). Nach Einschätzung deutscher Diplomaten steuert Afghanistan "vor unseren Augen in die größte Katastrophe unserer Zeit" (FAZ, Aktionsplan des Außenamtes, Die Lage in Afghanistan wird kritischer, 28. Dezember 2021). [...]

86 cc) Afghanistans langwierige Nahrungsmittelkrise hat sich weiter vertieft und ausgeweitet (IPC, Afghanistan: Akute Ernährungsunsicherheit September - Oktober 2021 und Prognose für November 2021 - März 2022). Zwischen September und Oktober 2021 erlebten fast 19 Millionen ein hohes Maß an akuter Ernährungsunsicherheit, die im Rahmen der von Hilfsorganisationen zur Bestimmung des Ausmaßes von Nahrungsmittelunsicherheit verwendeten Integrated Food Security Phase Classification (IPC) in die IPC-Phasen 3 oder 4 eingestuft wurden (IPC, Afghanistan: Akute Ernährungsunsicherheit September - Oktober 2021 und Prognose für November 2021 - März 2022). Der auf den Phasen 3 und 4 beruhende Grad akuter Nahrungsmittelunsicherheit bedeutet nach der IPC-Klassifikation, dass diese Menschen als zur Sicherstellung ihrer Ernährung dringend humanitärer Hilfsleistungen bedürftig gelten (Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Urt. v. 25. März 2021, Az. 1 Bf 388/19.A, juris, Rn. 90).

87 Es ist wahrscheinlich, dass sich der Zugang der Haushalte zu Nahrungsmitteln zwischen dem Ende des Winters und der folgenden Frühjahrssaison aufgrund der anhaltenden Klimaepisode von La Niña, die das zweite Jahr in Folge unterdurchschnittliche Winterniederschläge mit sich bringt, der Auswirkungen hoher Lebensmittelpreise, der Sanktionen gegen die Taliban, der wachsenden Arbeitslosigkeit und möglicherweise der zunehmenden Vertreibung weiter verschlechtern wird (IPC, Afghanistan: Akute Ernährungsunsicherheit September - Oktober 2021 und Prognose für November 2021 - März 2022; vgl. Welthungerhilfe, Fast-sheet Afghanistan. 12. Dezember 2021). [...]

92 Im Dezember 2021 haben 98 % der Afghanen nicht genügend Lebensmittel. [...]

93 Durch die schlimme Dürre 2021, die Covid-19-Pandemie sowie die Einstellung der internationalen Hilfe nach der Machtübernahme der Taliban sind die Preise für Lebensmittel, Medikamente, Strom und andere grundlegende Güter in die Höhe geschnellt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Stand: 31. Oktober 2021, S. 23). Nach vorläufigen Schätzungen lag die Getreideernte 2021 um 20% unter dem Niveau von 2020 (vgl. IPC, Afghanistan, ACUTE FOOD INSECURITY ANALYSIS: September 2021 – March 2022, Oktober 2021, S. 2).

94 In den letzten Monaten kam es zu einem erheblichen Anstieg der Lebensmittelpreise und anderer grundlegender Güter. Die Preise für Treibstoff und Grundnahrungsmittel sind in der dritten Dezemberwoche im Vergleich zur letzten Juniwoche um fast 50 % gestiegen (WFP Afghanistan Situation Report, 22. Dezember 2021). [...]

101 c) Die vorgenannten aktuellen Erkenntnisse zur Lage in Afghanistan zugrunde legend ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass im Hinblick auf junge, erwachsene, gesunde, alleinstehende und nicht zum Unterhalt verpflichtete Männer regelhaft die sehr hohen Voraussetzungen des Art. 3 EMRK im Hinblick auf eine drohende Verelendung vorliegen, wenn in ihrer Person keine begünstigenden Umstände vorliegen (vgl. VG Greifswald, Urt. v. 21. Januar 2022, Az. 3 A 194/19 HGW – juris, Rn. 29; VG Cottbus, Urt. v. 3. November 2021, Az. 8 K 306/17.A, juris, Rn. 48; VG E-Stadt, Urt. v. 26. November 2021, Az. 1 A 31/21, juris, Rn. 35; VG Meiningen, Gerichtsbescheid v. 10. November 2021, Az. 8 K 366/21, S. 8; vgl. VG München, Urt. v. 27. September 2021, Az. 6 K 17.37655, BeckRS 2021, 29660, beck-online, Rn. 21; VG München, Urt. v. 12. November 2021, Az. M 2 K 21.30954, juris, Rn. 38; vgl. VG Gelsenkirchen, Urt. v. 20. September 2021, Az. 5a K 6073/17.A, juris, Rn. 112; vgl. VG Köln, Urt. v. 31. August 2021, Az. 14 K 6369/17.A – juris, Rn. 34). [...]