VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 14.03.2022 - 34 K 422.18 A - asyl.net: M30670
https://www.asyl.net/rsdb/m30670
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für palästinensische Familie mit Kleinkindern hinsichtlich des Libanon:

1. Der Libanon befindet sich in einer Finanz- und Wirtschaftskrise, die als eine der schwersten weltweit seit Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Die Möglichkeit von in Libanon lebenden Personen, sich ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen, ist beeinträchtigt. Als Folge der Hyperinflation sind die Mietpreise erheblich gestiegen, so dass es zunehmend schwierig wird, eine Wohnung zu finden. Krankenhäuser sind mit Problemen wegen Stromversorgung, Überbelegung und finanziellen Engpässen konfrontiert. Staatenlose Palästinenser*innen sind von der allgemein schwierigen sozioökonomischen Lage noch stärker als libanesische Staatsangehörige betroffen.

2. Regelmäßig werden palästinensischen Familien mit Kleinkindern trotz ihrer Vulnerabilität und der sehr schwierigen Lage der palästinensischen Bevölkerung ihre existenziellen Lebensbedürfnisse befriedigen können, so dass kein Abschiebungsverbot festzustellen ist. Das gilt zumindest, wenn sie als Kernfamilie auf ein familiäres oder soziales Netzwerk zurückgreifen können und nicht zwingend auf zuzahlungspflichtige medizinische Behandlung oder Medikamente angewiesen sind.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht hinsichtlich alleinstehender libanesischer Staatsangehöriger: VG Hamburg, Urteil vom 09.09.2021 - 14 A 6163/21 - asyl.net: M30062)

Schlagwörter: Libanon, Palästinenser, Abschiebungsverbot, Familieneinheit, Familie, Kleinkinder, besonders schutzbedürftig, medizinische Versorgung, familiäre Lebensgemeinschaft,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

23 Der Libanon war bis in den letzten Jahren ein wirtschaftlich vergleichsweise gut situiertes Land (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg, 2. März 2021, S. 1). Seit dem Jahr 2019 befindet sich das Land aber in einer schweren Finanz- und Wirtschaftskrise, die als eine der schwersten Krisen weltweit seit Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden kann (vgl. Euro-Med Human Rights Monitor, Report Lebanon, September 2021, S. 4; Congressional Research Service, Lebanon Update, 8. November 2021, S. 2). [...]

33 Viele Palästinenser im Libanon leben in Armut. Flüchtlinge im Libanon sind noch stärker als libanesische Staatsangehörige von Armut und den Folgen der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen (vgl. KAS/Triangle, Going Hungry: The Empty Plates and Pockets of Lebanon, S. 4). Es ist davon auszugehen, dass die Lage für Palästinenser im Libanon sowohl in als auch außerhalb der palästinensischen Lager zunehmend prekär wird (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg, 2. März 2021, S. 4). Von nichtsyrischen Flüchtlingen im Libanon, wozu auch Palästinenser zählen, sind 33 Prozent von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen. [...]

34 Sofern staatenlose Palästinenser im Libanon ohne Unterstützung von dritter Seite auf sich allein gestellt wären, besteht vor diesem Hintergrund eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie zur Sicherung eines hinreichenden Existenzminimums aus eigener Kraft nicht in der Lage wären.

35 Um eine Lage extremer materieller Not zu verhindern, sind staatenlose Palästinenser im Libanon auf Hilfeleistung des UNRWA angewiesen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg, 2. März 2021, S. 4). Eine wachsende Anzahl von Palästinensern ist nahezu vollständig von UNRWA-Leistungen abhängig (vgl. UNRWA, Exchange of Views with the European Parliament, 17. September 2021, S. 2). [...]

38 Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnislage ist das Gericht nicht überzeugt, dass für Palästinenser im Libanon, die auf ein familiäres oder soziales Netzwerk zurückgreifen können, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie ihre existentiellen Lebensbedürfnisse nicht befriedigen können. [...]

39 Handelt es sich hingegen um Palästinenser ohne familiäre Anbindung im Libanon oder um Palästinenser, die eine zwingend erforderliche zuzahlungspflichtige medizinische Behandlungen oder zwingend die regelmäßige Einnahme von Medikamente bedürfen, kommt je nach Einzelfall ein Abschiebungsverbot in Betracht. [...]

40 Bei Familien mit kleinen Kindern verkennt das Gericht nicht deren grundsätzliche Vulnerabilität, nach Auswertung der Erkenntnismittel ist es jedoch überzeugt, dass jedenfalls im Falle von noch im Libanon aufhältigen Verwandten und keinen behandlungsbedürftigen Erkrankungen innerhalb der Kernfamilie die Schwelle zur Annahme eines Abschiebungsverbotes trotz der sehr schwierigen Lage der Palästinenser im Libanon noch nicht erreicht ist. [...]