VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 14.03.2022 - 12a K 9628/17.A - asyl.net: M30638
https://www.asyl.net/rsdb/m30638
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus Syrien:

1. Der "temporäre Schutzstatus", den syrische Staatsangehörige in der Türkei erhalten, schützt nicht hinreichend sicher vor zwangsweiser Abschiebung nach Syrien. Die Türkei ist deshalb kein sicherer Drittstaat gemäß § 27 AsylG und ein Asylantrag syrischer Staatsangehöriger, die dort einen solchen Schutzstatus erhalten haben, nicht unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG.

2. Homosexuellen und transgeschlechtlichen Personen drohen in Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erhebliche Verfolgungshandlungen, insbesondere Folter. 

(Leitsätze der Redaktion; entgegen: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.05.2019 - 14 A 1720/19.A - justiz.nrw.de; anderer Ansicht: VG Lüneburg, Urteil vom 12.02.2018 - 4 A 36/17 - asyl.net: M26413)

Schlagwörter: Syrien, Türkei, sichere Drittstaaten, homosexuell, sexuelle Orientierung, Strafbarkeit, soziale Gruppe, transsexuell, Tanspersonen,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 27 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Asylantrag des Klägers ist nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG unzulässig. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein Staat, der kein Mitgliedstaat der Europäischen Union und bereit ist, den Ausländer wieder aufzunehmen, als sonstiger Drittstaat gemäß § 27 AsylG betrachtet wird. § 27 AsylG betrifft die Sicherheit vor Verfolgung in einem "sonstigen Drittstaat“ womit in der Terminologie des Asylgesetzes ein Staat außerhalb der Europäischen Union gemeint ist. Hat sich ein Ausländer in einem sonstigen Drittstaat, in dem ihm keine politische Verfolgung droht, vor der Einreise in das Bundesgebiet länger als drei Monate aufgehalten, so wird vermutet, dass er dort vor politischer Verfolgung sicher war, es sei denn, er macht glaubhaft, dass eine Abschiebung in einen anderen Staat, in dem ihm politische Verfolgung droht, nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen war (§ 27 Abs. 3 AsylG). [...]

Diese Anforderungen sind nicht erfüllt. Nach dem vorstehend dargelegten Maßstab ist die Türkei für den Kläger kein sonstiger (sicherer) Drittstaat gemäß § 27 AsylG. Im Rahmen der Folgeantragstellung vom 13. Juni 2016 wurde glaubhaft vorgetragen, der Kläger habe in Erfahrung gebracht, dass seine Familie von der Türkei aus nach Syrien abgeschoben worden sei.

Diese ohne erkennbare Berücksichtigung von §§ 27 AsylG vorgetragene Abschiebung ist ohne weiteres plausibel. Es entspricht der Auskunftslage, dass zahlreiche Syrer zwangsweise aus der Türkei nach Syrien abgeschoben wurden.

Nach Erkenntnissen des österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erhalten syrische Staatsangehörige in der Türkei einen sog. "temporären Schutzstatus“, der speziell für diese Personengruppe eingeführt wurde. Allerdings bietet dieser keinen hinreichend sicheren Schutz vor zwangsweiser Abschiebung nach Syrien, die zum Teil als vermeintlich freiwillige Rückkehr verschleiert wurde, die auch im Jahr 2019 ein wichtiges Thema bzw. Problem im System des vorübergehenden Schutzes syrischer Flüchtlinge war. [...]

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

Im vorliegenden Einzelfall kann dahinstehen, ob der Kläger vorverfolgt ausgereist ist. Denn unabhängig hiervon droht dem Kläger für den Fall einer (fiktiven) Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an seine Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der homosexuellen Männer.

Der Einzelrichter ist im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO von der homosexuellen Orientierung des Klägers überzeugt. [...]

Verfolgungsgrund ist wegen der homosexuellen Orientierung des Klägers dessen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nach §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG .

Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe wird nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Satz 1 AsylG durch zwei Voraussetzungen, die kumulativ erfüllt sein müssen, definiert. Zum einen müssen die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zum anderen muss diese Gruppe in dem Herkunftsland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Ohne Zweifel ist die sexuelle Ausrichtung einer Person für deren Identität so bedeutsam, dass sie nicht gezwungen werden sollte, hierauf zu verzichten. So bestimmt § 3b Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 AsylG, dass als eine bestimmte soziale Gruppe auch eine solche gelten kann, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Sofern strafrechtliche Bestimmungen vorhanden sind, die spezifisch Homosexuelle bzw. homosexuelle Handlungen betreffen, erlaubt dies die Feststellung, dass solche Personen in dem Herkunftsland vom Rest der Gesellschaft deutlich abgegrenzt werden. [...]

Dies ist in Syrien der Fall, denn nach dem Wortlaut von § 520 des syrischen Strafgesetzbuches von 1949 wird jede wider(un-)natürliche sexuelle Tätigkeit mit Gefängnis bestraft. [...]

Dass die Vorschrift nach der nachstehend wiedergegebenen Auskunftslage in der Praxis kaum angewendet wird, steht der Bewertung, dass allein der Bestand der Norm die Schlussfolgerung zulässt, dass solche Personen in dem Herkunftsland vom Rest der Gesellschaft deutlich abgegrenzt werden(, nicht entgegen]. [...]

Dem Kläger drohen auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen. Der bisherigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, die eine beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungshandlungen deshalb verneint hat, weil nach der Auskunftslage tatsächlich keine Verurteilungen Homosexueller bekannt sind (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23. Mai 2019 - 14 A 1720/19.A -, juris Rn. 11 ff.), folgt der Einzelrichter nicht (mehr). Denn nach aktueller Auskunftslage drohen dem Kläger aufgrund seiner Homosexualität unabhängig davon, dass die einschlägige Strafnorm auch weiterhin nicht nachweislich angewandt wird, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erhebliche anderweitige Verfolgungshandlungen, insbesondere Folter. [...]

Berichten zufolge hat sich die Situation von Personen, deren sexuelle Orientierung und/oder geschlechtliche Identität tatsächlich oder vermeintlich nicht den traditionellen Vorstellungen entsprechen, aufgrund des Bürgerkriegs verschlimmert. Homosexuelle und bisexuelle Männer sowie transgeschlechtliche Frauen sind laut Meldungen besonders gefährdet, Opfer körperlicher und sexueller Gewalt zu werden, die sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, u.a. insbesondere an Kontrollstellen, in Haftanstalten und Gefängnissen und im Militär. Für Personen, deren sexuelle Orientierung nicht den traditionellen Vorstellungen entspricht, besteht Meldungen zufolge die Gefahr, dass sie von Regierungstruppen und regierungsnahen Gruppen sowie bewaffneten oppositionellen Gruppen willkürlich verhaftet, gefoltert und getötet werden. Bei diesen Personen besteht laut Meldungen die Gefahr, dass sie von der Gesellschaft ausgeschlossen, schikaniert, mit dem Tod bedroht, eingeschüchtert, zu einer "Konversionstherapie" gezwungen sowie körperlicher und sexueller Gewalt durch Mitglieder ihrer eigenen Familie ausgesetzt werden. [...]