Kein "ipso facto"-Schutz für palästinensische Geflüchtete, wenn durch freiwillige Ausreise auf Schutz durch UNRWA verzichtet wird:
"1. Das freiwillige Verlassen des UNRWA-Einsatzgebiets entfaltet keine absolute Sperrwirkung für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes "ipso facto" gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG.
2. Umstände, die nach dem freiwilligen Verlassen des UNRWA-Einsatzgebiets eingetreten sind, können die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes "ipso facto" rechtfertigen.
3. Nicht zu berücksichtigen sind nach dem freiwilligen Verlassen des UNRWA-Einsatzgebiets eingetretene Umstände, die ein Antragsteller durch das Verlassen dieses Gebiets hervorgerufen hat (z.B. Wiedereinreiseverbot). Dies gilt jedenfalls dann, wenn er auf Grundlage ihm vorliegender konkreter Informationen mit dem Eintritt dieser Umstände rechnen musste (eingeschränkte Sperrwirkung des freiwilligen Verlassens des UNRWA-Einsatzgebiets).
4. Der UNRWA ist noch in der Lage, palästinensischen Flüchtlingen im Libanon Lebensbedingungen zu ermöglichen, die mit Art. 3 EMRK [Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung] vereinbar sind.
5. Palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien ist eine Wiedereinreise in den Libanon grundsätzlich verwehrt, selbst wenn sie vor der Einreise in die Europäische Union als Flüchtlinge dort gelebt haben."
(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 03.03.2022 - C-349/20 - NB, AB gegen Vereinigtes Königreich - asyl.net: M30471)
[...]
1. Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer dann nicht Flüchtling, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Art. 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -; BGBl. 1953 II, S. 559 ff.) genießt. [...]
Die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG nimmt alle Personen vom Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 AsylG aus, deren Betreuung das UNRWA entsprechend seinem Mandat übernommen hat. [...]
Dies soll allerdings nur so lange gelten, wie das UNRWA in der Lage ist, den Palästina-Flüchtlingen adäquaten Schutz und Beistand zu bieten. Ist dies nicht länger der Fall, bestimmt die Einschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG, dass Staatenlosen palästinensischer Herkunft die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. [...]
2. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen der Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG.
Aufgrund der vorgelegten Unterlagen sowie der insoweit glaubhaften Angaben des Klägers steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass es sich bei dem Kläger um einen Staatenlosen palästinensischer Herkunft handelt. [...]
Da der Kläger als staatenloser Palästinenser ausweislich der vorgelegten Registration Card bei der UNRWA registriert ist, gehört er zu den Personen, deren Betreuung das UNRWA entsprechend seinem Mandat übernommen hat. [...]
Der Grund für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling liegt nicht nur bei Personen vor, die zurzeit den Beistand des UNRWA genießen, sondern auch bei solchen, die diesen Beistand kurz vor Stellung eines Asylantrags tatsächlich in Anspruch genommen haben. [...]
Der Kläger hat nach seinen glaubhaften Angaben vor seiner Ausreise tatsächlich den Beistand des UNRWA in Anspruch genommen. Er ist nur wenige Monate vor der Stellung eines Asylantrags aus dem Libanon ausgereist.
3. Dagegen liegen die Voraussetzungen der Einschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG nicht vor. Der Kläger hat den Schutz und Beistand des UNRWA nicht i.S.d. § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG verloren.
Einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft wird i.S.d. § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG Schutz oder Beistand i.S.d. § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG nicht länger gewährt, wenn sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände herausstellt, dass er sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dem UNRWA, um dessen Beistand er ersucht hat, unmöglich ist, ihm Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabe des UNRWA im Einklang stehen. [...]
Es macht dann keinen Unterschied, ob das UNRWA-Einsatzgebiet unfreiwillig oder freiwillig verlassen wurde.
Ist eine Rückkehr nicht möglich bzw. zumutbar und wurde das UNRWA-Einsatzgebiet unfreiwillig verlassen, besteht offensichtlich ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]
Hinsichtlich der verbleibenden Konstellation – das Mandatsgebiet wurde freiwillig verlassen, eine Rückkehr ist allerdings nicht mehr möglich bzw. zumutbar – ist die Rechtsprechung bislang überwiegend von einer absoluten Sperrwirkung durch das freiwillige Verlassen ausgegangen. [...]
In der jüngsten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 12 RL 2011/95/EU hat dieser allerdings klargestellt, dass nationale Behörden bzw. Gerichte nicht nur festzustellen haben, ob das Verlassen des Einsatzgebiets unfreiwillig war, sondern auch, ob ein Antragsteller "derzeit daran gehindert ist, diesen Schutz oder Beistand zu erhalten, weil sich mutmaßlich die Lage im betreffenden Einsatzgebiet aus nicht von ihm zu kontrollierenden und von seinem Willen unabhängigen Gründen verschlechtert hat." [...]
Die Annahme einer absoluten Sperrwirkung durch ein freiwilliges Verlassen des UNRWA-Einsatzgebiets ist vor diesem Hintergrund nicht mehr möglich. [...]
Daraus folgt, dass auch Umstände die Zuerkennung des ipso-facto Schutzes rechtfertigen können, die nach dem freiwilligen Verlassen des UNRWA-Einsatzgebiets eingetreten sind. Dies gilt allerdings vor dem Hintergrund des Sinn und Zwecks der Regelungen zum ipso-facto Schutz nicht unbegrenzt (eingeschränkte Sperrwirkung). [...]
Entsprechendes gilt auch für die vergleichbare Situation, in der ein Staatenloser palästinensischer Herkunft das Einsatzgebiet des UNRWA insgesamt freiwillig verlässt und aufgrund konkreter Informationen vernünftigerweise damit rechnen musste, dass ihm eine Rückkehr in das Einsatzgebiet insgesamt bzw. in den "sicheren" Teil des Einsatzgebiets nicht mehr möglich sein wird. [...]