Keine Unzulässigkeitsentscheidung gegenüber Personen, die in Ungarn internationalen Schutz erhalten haben, jedenfalls wenn sie vulnerabel sind:
1. Es ist fraglich, ob anerkannt Schutzberechtigte, die Ungarn zwischenzeitlich verlassen haben, dort nach ihrer Rückkehr weiterhin als schutzberechtigt behandelt werden oder ob der Schutzstatus automatisch erlischt.
2. Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass auch alleinstehenden, arbeitsfähigen, nicht vulnerablen Personen im Fall ihrer Rücküberstellung nach Ungarn entgegen Art. 3 EMRK/Art. 4 GR-Charta eine unmenschlichen oder erniedrigende Behandlung droht.
3. Jedenfalls nicht uneingeschränkt arbeitsfähigen, ggf. vulnerablen Personen droht in Ungarn eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
1. Es ist bereits fraglich, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (noch) vorliegen. Zwar steht nach dem Vortrag des Klägers und dem Akteninhalt fest, dass dem Kläger in Ungarn am 2. Juli 2018 internationaler Schutz gewährt wurde. Dieser Schutzstatus dürfte aber mittlerweile nicht mehr bestehen.
Nach der Erkenntnislage ist nicht eindeutig, ob anerkannte Schutzberechtigte, die Ungarn zwischenzeitlich verlassen haben, dort auch nach ihrer Rückkehr weiterhin als solche behandelt werden oder der Schutzstatus automatisch verloren geht. So führt das Auswärtige Amt in einer Auskunft vom 29. Mai 2018 aus, bei den Überprüfungsfällen des Status der anerkannt subsidiär Schutzberechtigten liege die Schwierigkeit eher darin, den Aufenthalt der zu Überprüfenden zu ermitteln, da sich inzwischen viele nicht mehr in Ungarn aufhielten; in Fällen, in denen der Aufenthalt nicht ermittelt werden könne, werde der Status beendet; nur selten werde aber ein Widerruf oder eine Rücknahme ausgesprochen (vgl. AA, Auskunft Verwaltungsgericht Trier zur Überstellung von anerkannt Schutzberechtigten aufgrund des Rückübernahmeabkommens, 29.05.2018).
Ob unter diese Praxis - auch - Schutzberechtigte fallen, die in einem anderen EU-Staat einen weiteren Asylantrag gestellt haben und - Jahre später, insbesondere nach Ablauf der dreijährigen Überprüfungsfrist - nach Ungarn zurückgeführt werden sollen, ist nicht bekannt. [...]
2. Auch wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegen sollten, ist eine Unzulässigkeitsentscheidung aus unionsrechtlichen Gründen im vorliegenden Einzelfall ausgeschlossen. [...]
b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe durfte der Asylantrag nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden. Denn dem Klägern droht als vulnerable Person bei einer Rückkehr nach Ungarn im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die ernsthafte Gefahr einer gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK verstoßenden erniedrigenden Behandlung. Nach Auswertung der zur Verfügung stehenden aktuellen Erkenntnismittel zu den generellen Lebensbedingungen anerkannt Schutzberechtigter in Ungarn (aa) sowie unter Berücksichtigung der individuellen Lage und persönlichen Umstände des Klägers (bb) ist die Kammer davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten würde und seine elementarsten Bedürfnisse für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen könnte. [...]
(2.) Obwohl anerkannt Schutzberechtigte nach ihrer Registrierung grundsätzlich die gleichen Rechte auf Zugang zu einer Wohnung haben wie ungarische Staatsangehörige, gestaltete sich ihre Unterbringung bereits in der Vergangenheit in Ungarn äußerst schwierig und wird mittlerweile als größtes Hindernis für ein Leben und die Integration in Ungarn gesehen. [...]
(3.) Zur Abwendung von Obdachlosigkeit und zur Sicherung des Lebensunterhalts im Übrigen können anerkannte Schutzberechtigte in Ungarn nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auf das Existenzminimum sichernde Sozialhilfeleistungen des ungarischen Staates zurückgreifen. Zwar gewährt dieser anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten soziale Unterstützungsleistungen unter denselben Bedingungen und auf dem gleichen Niveau wie für ungarische Staatsangehörige (vgl. AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 130).
Allerdings können Schutzberechtigte nach Zuerkennung des Schutzstatus (und Rückkehr aus einem anderen EU-Mitgliedstaat) diese Bedingungen nicht erfüllen. Die verschiedenen Formen der Sozialhilfe, die von der lokalen Regierung angeboten werden, setzen jeweils voraus, dass der Begünstigte bereits über eine bestimmte Anzahl von Jahren einen festen Wohnsitz in Ungarn hat. [...]
(4.) Schutzberechtigte haben grundsätzlich unter den gleichen Bedingungen Zugang zum Arbeitsmarkt wie ungarische Staatsbürger. Sie benötigen insbesondere keine Arbeitserlaubnis. [...]
Allerdings wirkt sich eine Besonderheit der ungarischen Beschäftigungsstruktur generell negativ auf die Beschäftigungsmöglichkeiten von Schutzberechtigten aus. Die Gesamtzahl der Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung, dem Bildungs- und Gesundheitswesen beträgt in Ungarn 21,5 %. Der größte Arbeitgeber der Sozialverwaltung ist der ungarische Staat. Da gemäß § 10 Abs. (2) b) des geltenden Asylgesetzes LXXX von 2007 (abrufbar in englischer Fassung unter www.asylumlawdatabase.eu/sites/default/files/aldfiles/ENAct LXXX of 2007 on Asylum Hungary.pdf), ein Schutzberechtigter jedoch keine Tätigkeit oder Verantwortung übernehmen und kein Amt bekleiden darf, dessen Ausübung oder Innehaben gesetzlich an die ungarische Staatsangehörigkeit gebunden ist, können Flüchtlinge in diesem - relativ großen - Bereich keine Arbeit finden. [...]
Weiter lässt sich vor allem aus den Erfahrungen der NGOs, die bis Ende Juni 2018 mehrere Projekte durchführten, um die Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt für Personen mit internationalem Schutz zu verringern (durch Schulungen, soziale und rechtliche Beratung sowie Nachhilfeunterricht und Kompetenzentwicklung in Ungarisch), schließen, dass Schutzberechtigte aufgrund der faktisch nicht vorhandenen Möglichkeit der Anerkennung von Qualifikationen und der sprachlichen Probleme am ehesten eine Beschäftigung in ungelernten Berufen und damit im unteren Segment des Arbeitsmarkts finden (vgl. NIEM Policy Briefs, National Report on the Integration of Beneficiaries of International Protection in Hungary, 2017-19, S. 17).
Sie werden typischerweise in den Bereichen Gastgewerbe, Tourismus und Baugewerbe beschäftigt, etwa als Küchenhilfen, Hotelreiniger oder ungelernte Arbeiter. Branchenspezifisch für diese Bereiche ist die Beschäftigung zum Mindestlohn und mit einer Anzahl von Arbeitsstunden, die nicht der Realität entspricht. Häufig besteht deshalb für Flüchtlinge und Schutzberechtigte, die - wie regelmäßig - kein Kontaktnetz und keine Unterstützung in Ungarn haben, die einzige Möglichkeit ihren Lebensunterhalt sicherzustellen darin, Jobs in der Schattenwirtschaft anzunehmen (vgl. NIEM Policy Briefs 3: Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Arbeitsmarktsituation von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 14; vgl. auch RESPOND, Paper 2020/43 Reception Policies, Practices and Responses, 01.02.2020, S. 25, wonach die Löhne, die für Flüchtlinge gezahlt werden, weit unter dem Durchschnitt liegen und Ausbeutung am Arbeitsplatz keine Seltenheit sei.
Die Corona-Pandemie hat allerdings gerade den Tourismus und das Gastgewerbe am stärksten getroffen. Viele Menschen in diesen Bereichen, darunter auch Schutzberechtigte haben zwischenzeitlich ihren Arbeitsplatz verloren. [...]
Im Gegensatz zu früher liegen nun auch für die freien Stellen in diesen Branchen ausreichend Bewerbungen ungarischer Staatsbürger vor, die wegen ihrer Sprachkenntnisse Personen mit internationalem Schutz vorgezogen werden. [...]
Wie sich die Pandemie langfristig auf die Arbeitsmöglichkeiten für Schutzberechtigte auswirken wird, ist schwierig zu prognostizieren; im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung haben sich nach den aktuellen Erkenntnissen die Chancen Schutzberechtigter auf einen Arbeitsplatz, der es ermöglicht, den Lebensunterhalt in Ungarn zu sichern, jedenfalls deutlich verschlechtert.
(5.) Bezüglich der Gesundheitsversorgung sind anerkannt Schutzberechtigte nach dem ungarischen Gesundheitsgesetz den ungarischen Staatsangehörigen gleichgestellt. In Ungarn existiert ein allgemeiner Versicherungsschutz in den Bereichen Krankheit, Mutterschutz, Alter, Invalidität, Berufskrankheiten und -unfälle, Hinterbliebene, Kindererziehung und Arbeitslosigkeit; allerdings werden nur Personen, die erwerbstätig sind per Gesetz Mitglied der Versicherung (vgl. BAMF, Bericht zur Integration in Ungarn, S. 7, Stand: Juli 2020, 15.07.2020).
In den ersten sechs Monaten nach der Zuerkennung des Schutzstatus besteht nur ein Anspruch auf Versorgung unter den für Asylbewerber geltenden Bedingungen (vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 131f.).
Das bedeutet, dass die Asylbehörde die Kosten für die Gesundheitsversorgung der Schutzberechtigten für sechs Monate übernimmt, wenn sie bedürftig sind und - was regelmäßig der Fall sein dürfte - keine andere Form der Krankenversicherung abschließen können (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Ungarn, Gesamtaktualisierung 26.02.2020, Stand: 09.03.2020, S. 21).
Allerdings wird nach Berichten der NGOs diese Form der Kostenübernahme von den Leistungserbringern im ungarischen Gesundheitswesen nicht akzeptiert. [...]
Im Übrigen bestehen erhebliche tatsächliche Hindernisse beim Zugang zur Gesundheitsversorgung, insbesondere aufgrund von Sprachschwierigkeiten, die nur durch die - mittlerweile stark eingeschränkte - Tätigkeit von NGOs (hierzu unter 6.) überbrückt werden könnten.
Schließlich haben die jüngsten Änderungen des Sozialversicherungsgesetzes zur Folge, dass der Krankenversicherungsanspruch von später aus anderen EUMitgliedstaaten zurückgeführten Personen, die zunächst internationalen Schutz in Ungarn erhalten hatten, erlischt. Etwaige Kosten für eine zeitnah nach der Einreise erforderliche medizinische Behandlung sind deshalb von den Schutzberechtigten selbst zu tragen. [...]
Mit Blick auf diese Auskunftslage sind zumindest Zweifel angebracht, ob die Feststellung des Bundesamtes allen in Ungarn sich aufhaltenden Personen stehe unabhängig von Aufenthaltsstatus und Staatsangehörigkeit eine Notfallversorgung in dringenden Fällen zur Abwendung von lebensgefährdenden, schweren oder bleibenden Gesundheitsschäden sowie zur Linderung von Schmerzen und Leiden zur Verfügung, [...]
(6.) Die Hilfsangebote der Nichtregierungsorganisationen für Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn sind zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nur noch sehr eingeschränkt vorhanden und schwer zugänglich. [...]
Zusammenfassend stellt sich die Situation so dar, dass zwar noch einzelne NGOs sich im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten für in Ungarn befindliche, anerkannte Schutzberechtigte einsetzen (Menedék, BMSZKI, Kalunba?, Cordelia Foundation, HHC) und durchaus engagiert bemüht sind, die Lücken, die durch die Verweigerung jeglicher staatlicher Unterstützung in allen Bereichen entstanden sind, auszugleichen. Vor allem im Wohnungssektor beschränkt sich ihr Angebot aber auf Nothilfen in Ausnahmefällen für einen begrenzten Personenkreis. Auch die sonstigen Sozialleistungen, psychologische Versorgung sowie allgemeine Integrationsleistungen, insbesondere im Bildungssektor sind real nicht oder nur noch schwer erreichbar und werden aufgrund gezielter Maßnahmen des ungarischen Staates so behindert, dass von keiner längerfristigen Sicherheit der Unterstützungsleistungen ausgegangen werden kann. Noch schwerer zugänglich sind die Angebote der NGOs für aus einem EU-Mitgliedstaat zurückkehrende Schutzberechtigte, da staatlicherseits eine Kontaktaufnahme in keiner Weise unterstützt oder gefördert, sondern im Gegenteil behindert wird. [...]
(7.) Das Gericht kann in diesem Verfahren im Ergebnis offen lassen, ob sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die aktuelle Situation für alle Schutzberechtigten, also auch für alleinstehende, arbeitsfähige, nicht vulnerable Personen so darstellt, dass im Fall ihrer Rücküberstellung nach Ungarn die beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC ausgesetzt sein werden. [...]
Gemessen daran ist jedenfalls für die Situation der Gruppe der nicht uneingeschränkt arbeitsfähigen, ggf. vulnerablen Personen unter Berücksichtigung der Erkenntnislage und ihres regelmäßig besonderen Bedarfs in aller Regel nicht davon auszugehen, dass sie die für die Schaffung adäquater, menschenwürdiger Lebensverhältnisse in Ungarn erforderliche besondere Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit aufbringen und ihren Lebensunterhalt zumindest auf niedrigem Niveau für den zugrunde zulegenden zeitlich erweiterten Prognosespielraum durch Arbeit sicherstellen können werden. Maßgeblich ist dabei eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls um das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK erforderliche "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) zu ermitteln. [...]