BVerfG

Merkliste
Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 20.04.2022 - 2 BvR 1713/21 - asyl.net: M30622
https://www.asyl.net/rsdb/m30622
Leitsatz:

Pflicht zur EuGH-Vorlage bei Auslieferung und drohender Gesundheitsverschlechterung:

1. Ob einer Justizbehörde Aufklärungs- und Prüfungspflichten obliegen, wenn bei der Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die betroffene Person an einer psychischen Krankheit leidet und durch die Auslieferung die konkrete Gefahr einer (weiteren) schweren Gesundheitsschädigung droht, ist durch die Rechtsprechung des EuGH nicht vollständig geklärt. Gleiches gilt für die Frage, ob im Falle drohender Gesundheitsschädigungen ein Überstellungshindernis vorliegt.

2. Das Gericht hätte nicht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH (Art. 267 Abs. 3 AEUV) entscheiden dürfen, dass trotz der Gefahr einer Verschlechterung des Gesundheitszustands des Beschwerdeführers kein Auslieferungshindernis bestehe. Indem das Gericht kein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet hat, hat es das Recht auf den gesetzlichen Richter, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, verletzt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Auslieferung, psychische Erkrankung, paranoide Schizophrenie, Suizidgefahr, Vorlagepflicht, Vorabentscheidungsverfahren, Vorabentscheidungsersuchen, Auslieferungshindernis, körperliche Unversehrtheit, Schweden,
Normen: AEUV Art. 267 Abs. 3, GG Art. 101 Abs. 1 S. 2, GR-Charta Art. 3 Abs. 1, IRG § 83b Abs. 2,
Auszüge:

[...]

48 b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Oberlandesgericht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Das Gericht hätte nicht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden dürfen, dass trotz der Gefahr einer Verschlechterung des Gesundheitszustands des Beschwerdeführers kein Auslieferungshindernis bestehe. Die Voraussetzungen der Vorlagepflicht lagen vor.

49 aa) Das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl ist vollständig unionsrechtlich determiniert (vgl. BVerfGE 140, 317 <343 Rn. 52>; 147, 364 <382 Rn. 46>; 156, 182 <197 Rn. 35>).

50 bb) Das Oberlandesgericht ist ein zur Vorlage verpflichtetes Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV, weil seine Entscheidungen im Überstellungsverfahren nicht mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können.

51 cc) Der Sachverhalt wirft zum einen die entscheidungserhebliche Frage auf, ob Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl im Licht des Art. 3 Abs. 1 GRCh (Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit) dahin auszulegen ist, dass der vollstreckenden Justizbehörde eigene Aufklärungs- und Prüfungspflichten obliegen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der betroffenen Person, die an einer psychischen Krankheit leidet, durch die Überstellung die konkrete Gefahr einer (weiteren) schweren Gesundheitsschädigung droht. Zum anderen stellt sich die Frage, ob im Falle einer solchen konkreten Gefahr ein Überstellungshindernis vorliegt.

52 Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu diesen entscheidungserheblichen Fragen ist nicht vollständig. Bislang hat der Gerichtshof weder die Frage, ob und in welchem Maße eigene Aufklärungs- und Prüfungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts aus Art. 3 GRCh abzuleiten sind, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der betroffenen Person durch die Überstellung die konkrete Gefahr einer (weiteren) schweren psychischen Gesundheitsschädigung droht, noch die Frage, ob in einem solchen Fall die Überstellung abgelehnt werden darf, abschließend geklärt. [...]

55 dd) Angesichts der Unvollständigkeit einschlägiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind auch keine Ausnahmen von der unionsrechtlichen Vorlagepflicht des Oberlandesgerichts ersichtlich. Insbesondere konnte das Gericht vor diesem Hintergrund nicht von einer richtigen Anwendung des Unionsrechts ausgehen, die derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bliebe („acte clair“). [...]