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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 30.03.2022 - 2 BvR 2069/21 (Asylmagazin 10-11/2022, S. 382 ff.) - asyl.net: M30621
https://www.asyl.net/rsdb/m30621
Leitsatz:

Verletzung der Pflicht zur EuGH-Vorlage bei Auslieferung einer in der EU schutzberechtigten Person:

1. Die Frage, ob die Auslieferung an den Herkunftsstaat (hier: Türkei) nach einer bestandskräftigen Anerkennung als Flüchtling durch einen anderen EU-Mitgliedstaat (hier: Italien) zulässig ist, ist im Schrifttum umstritten und in der Rechtsprechung des EuGH bislang nicht geklärt.

2. Die Garantie des gesetzlichen Gerichts (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) ist dann verletzt, wenn das Fachgericht eine entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts nicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlegt und dabei den Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschreitet. Unvertretbar gehandhabt wird Art. 267 Abs. 3 AEUV insbesondere dann, wenn das Fachgericht ohne sachliche Begründung eine eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage bejaht.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: BVerfG, Beschluss vom 20.04.2022 - 2 BvR 1713/21 - asyl.net: M30622)

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, internationaler Schutz in EU-Staat, Auslieferung, schwere nichtpolitische Straftat,
Normen: GG Art. 101 Abs. 1 S. 2, AEUV Art. 267 Abs. 3, AsylG § 6 S. 2, RL 2011/95/EU Art. 11, RL 2011/95/EU Art. 12, RL 2011/95/EU Art. 13, RL 2005/85/EG Art. 9 Abs. 2, RL 2005/85/EG Art. 9 Abs. 3
Auszüge:

[...]

33 Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angezeigt ist (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Demnach ist die zulässige Verfassungsbeschwerde insoweit offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

34 Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. [...]

35 1. Hinsichtlich der Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Zulässigkeit der Auslieferung vom 2. November 2021 ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. Sie verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. [...]

36 a) aa) Bei Zweifelsfragen über die Auslegung und Anwendung von Unionsrecht haben die Fachgerichte diese zunächst dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen. Dieser ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 f.>; 82, 159 <192>; 126, 286 <315>; 128, 157 <186 f.>; 129, 78 <105>; 135, 155 <230 Rn. 177>; stRspr). Unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sind die letztinstanzlich entscheidenden mitgliedstaatlichen Gerichte von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof anzurufen (vgl. BVerfGE 82, 159 <192 f.>; 128, 157 <187>; 129, 78 <105>; 135, 155 <230 f. Rn. 177>; stRspr). Kommt ein deutsches Gericht seiner Pflicht zur Anrufung im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nicht nach oder stellt es ein Vorabentscheidungsersuchen, obwohl eine Zuständigkeit des Gerichtshofs nicht gegeben ist (vgl. BVerfGE 133, 277 <316 Rn. 91>), kann dem Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsrechtsstreits der gesetzliche Richter entzogen sein (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 126, 286 <315>; 135, 155 <231 Rn. 177>). [...]

42 (3) Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union hingegen noch nicht vor, hat die bestehende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <317>; 128, 157 <188>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 <232 f. Rn. 183>). Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Fachgerichte das Vorliegen eines „acte clair“ oder eines „acte éclairé“ willkürlich bejahen. Das Gericht muss sich daher hinsichtlich des materiellen Unionsrechts hinreichend kundig machen. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren (vgl. BVerfGE 82, 159 <196>; 128, 157 <189>; 135, 155 <233 Rn. 184>; 147, 364 <381 f. Rn. 43>). Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts (vgl. BVerfGE 135, 155 <233 Rn. 184>) die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig („acte clair“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé“; vgl. BVerfGE 129, 78 <107>; 135, 155 <233 Rn. 184>). Unvertretbar gehandhabt wird Art. 267 Abs. 3 AEUV im Falle der Unvollständigkeit der Rechtsprechung insbesondere dann, wenn das Fachgericht eine von vornherein eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage ohne sachliche Begründung bejaht (vgl. BVerfGE 82, 159 <196>; 135, 155 <233 Rn. 185>; 147, 364 <382 Rn. 43>).

43 b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Oberlandesgericht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Es hätte nicht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden dürfen, dass kein Auslieferungshindernis wegen drohender politischer Verfolgung bestehe. Die Voraussetzungen der Vorlagepflicht lagen vor. [...]

45 bb) Der Sachverhalt wirft die entscheidungserhebliche Frage auf, ob die bestandskräftige Anerkennung des Beschwerdeführers als Flüchtling durch die italienischen Behörden am 19. Mai 2010 für das Auslieferungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der unionsrechtlichen Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts (Art. 288 Abs. 3 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV) verbindlich ist und damit einer Auslieferung in die Türkei zwingend entgegenstünde, bis die Anerkennung als Flüchtling wieder aufgehoben oder zeitlich abgelaufen ist.

46 cc) Diese Frage ist im Schrifttum umstritten und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bislang noch nicht geklärt. [...]

48 (b) Hieraus wird im Schrifttum gefolgert, dass jedenfalls ab Vorliegen einer bestandskräftigen Anerkennung des Flüchtlingsstatus durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union eine Auslieferung an einen Drittstaat unionsrechtlich nicht mehr zulässig sei und § 6 Satz 2 AsylG, dem zufolge die Entscheidung über die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung internationalen Schutzes in Auslieferungverfahren nicht verbindlich ist, entsprechend richtlinienkonform ausgelegt werden müsse (vgl. Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 6 Rn. 15 f.; Hocks, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 6 AsylVfG, Rn. 22; im Ergebnis auch Schierholt/Zimmermann, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl. 2020, § 6 IRG, Rn. 76; zu Art. 7 Asyl-VRL a.F. auch bereits Lagodny, Auslieferung trotz Flüchtlings- oder Asylanerkennung, 2008, S. 48 ff.). Als weiteres Argument für eine Bindungswirkung einer Anerkennungsentscheidung eines anderen EU-Mitgliedstaats in einem Auslieferungsverfahren wird  orgebracht, dass Art. 11, Art. 12 und Art. 14 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) sowie die Asyl-Verfahrensrichtlinie (insbes. Art. 44 und Art. 45 Asyl-VRL) spezielle Regeln mit eigenen Verfahren für das Erlöschen, den Ausschluss oder die Aberkennung einer anerkannten Flüchtlingseigenschaft vorsähen, die bei einer fehlenden Bindungswirkung umgangen würden. Die Qualifikationsrichtlinie kenne gerade keine § 6 Satz 2 AsylG vergleichbare Regelung, sondern sehe das Erlöschen der Flüchtlingsanerkennung nur für den Fall der Veränderung der Umstände vor (Art. 11 der Qualifikationsrichtlinie) oder wenn sonst ein Grund dafür gegeben sei, den einmal ausgesprochenen Schutz abzuerkennen. [...]

49 (c) Von der im Schrifttum vertretenen Gegenauffassung (vgl. Funke-Kaiser, GKAsylVfG, Stand: Mai 2021, § 6 AsylG, Rn. 38 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Okt. 2021, § 6 AsylG, Rn. 5; Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationale Rechtshilfe, Stand: Juli 2009, § 6 IRG, Rn. 140 ff.) wird vorgebracht, dass Art. 7 Abs. 2 Asyl-VRL a.F. erkennen lasse, dass die unionalen Richtliniengeber Asyl- und Auslieferungsverfahren als voneinander unabhängige, selbstständige Verfahren angesehen hätten und keine Bindungswirkung der Asylentscheidungen im Auslieferungsverfahren zwingend vorgeschrieben werden sollte (vgl. Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß/ Gazeas, Internationale Rechtshilfe, Stand: Juli 2009, § 6 IRG, Rn. 140 f.). [...]

50 (2) Bislang hat sich der Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung der Art. 9 Abs. 2 und Abs. 3 der Asyl-VRL noch nicht erschöpfend geäußert beziehungsweise die entscheidungserhebliche Frage nicht abschließend geklärt. Vor diesem Hintergrund konnte das Oberlandesgericht nicht von einer richtigen Anwendung des Unionsrechts ausgehen, die derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bliebe („acte clair“). Es hätte sich vielmehr mit den unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten auseinandersetzen und das Absehen von einer Vorlage an den Gerichtshof näher begründen müssen.

51 (a) So könnten die Richtlinienbestimmungen einerseits so ausgelegt werden, dass auch nach der (bestandskräftigen) Zuerkennung des Flüchtlingsstatus eine Auslieferung in den Herkunftsstaat, einen Drittstaat, zulässig ist, soweit diese nicht gegen Völkerrecht und Unionsrecht (insbes. Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 GRCh) verstößt. Dies könnte mit der vom Gerichtshof der Europäischen Union wiederholt als legitimes Ziel anerkannten Vermeidung der Straflosigkeit von Personen, die eine Straftat begangen haben und sich im freien Binnenmarkt der Europäischen Union bewegen, in Einklang stehen (vgl. zur Betonung dieses Ziels m.w.N. das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 60). Andererseits könnte die Norm im Wege eines Umkehrschlusses auch so auszulegen sein, dass nach Abschluss des Asylverfahrens mit einer bestandskräftigen Anerkennung als Flüchtling eine Auslieferung an den Herkunftsstaat durch einen anderen EU-Mitgliedstaat nicht (mehr) zulässig ist. Für diese Auslegung könnte sprechen, dass die Richtlinienbestimmungen nur eine Regelung für den Zeitraum eines laufenden Asylverfahrens [„während“] treffen und damit gegebenenfalls divergierende Entscheidungen vermieden werden sollten. Zudem könnte eine fehlende Bindungswirkung die in der Richtlinie vorgesehenen speziellen Verfahren bei Erlöschen beziehungsweise Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft unterlaufen.

52 (b) Letztlich sind die Gründe, aus denen das Gericht von einer fehlenden Bindungswirkung im vorliegenden Fall ausgeht, nicht nachvollziehbar. [...]