OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 25.03.2022 - 2 PA 91/21 - asyl.net: M30602
https://www.asyl.net/rsdb/m30602
Leitsatz:

Während des Mutterschutzes stehen einer Verteilung nach § 15a AufenthG regelmäßig zwingende Gründe entgegen bzw. es liegt ein Vollstreckungshindernis vor, wenn die Mutterschutzzeit noch mehrere Monate andauert.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Verteilungsverfahren, Schwangerschaft, Mutterschutz,
Normen: AufenthG § 15a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 15a Abs. 4 S. 1, GG Art. 2 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

a) Werden der Verteilung entgegenstehende Gründe – wie vorliegend – erst nach Veranlassung der Verteilung nachgewiesen, kann sich aus ihnen – z.B. bei ernsthaften Gesundheitsgefahren – ein Hindernis für die Vollstreckung des Verteilungsbescheides ergeben, das sich auf die Rechtmäßigkeit der Zwangsmittelandrohung auswirkt (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 23.11.2020 - 2 B 250/20, juris Rn. 10 m.w.N.). Dabei ist, wenn die Vollstreckung noch nicht erfolgt ist, auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des letzten Tatsachengerichts abzustellen (OVG Bremen, Urt. v. 02.02.2022 – 2 LB 184/21, juris Rn. 38). [...]

Welche Schwere bzw. welches Ausmaß die drohende Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen Gesundheit erreichen muss, damit sie eine Verteilung unter Berücksichtigung von Art. 2 Abs. 2 GG als schlechthin unzumutbar erscheinen lässt, ist eine Frage des jeweiligen Einzelfalls. Ernstliche Gesundheitsgefahren, die eine Vollstreckung der Verteilung vorübergehend oder endgültig hindern, können jedenfalls nicht gleichgesetzt werden mit „zwingenden Gründen“, die nach § 15a Abs. 1 Satz 6, Abs. 2 Satz 2 AufenthG der Verteilung entgegenstehen. Ansonsten könnte der Betroffene im Vollstreckungsverfahren im Ergebnis dieselben Einwände vortragen, die er vor Veranlassung der Verteilung erfolglos geltend gemacht oder geltend zu machen versäumt hat. An das Vorliegen einer „ernsthaften Gesundheitsgefahr“, die eine Vollstreckung der Verteilung hindert, sind daher grundsätzlich höhere Anforderungen zu stellen als an das Vorliegen eines „zwingenden Grundes“ i.S.d. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG. Keinesfalls darf der Betroffene aber durch die Vollstreckung der Verteilung sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert werden (OVG Bremen, Beschl. v. 10.07.2019 - 2 B 316/18, a.a.O., Rn. 8). Wo unterhalb dieser Schwelle die Grenze für eine ernsthafte Gesundheitsgefahr, die ein Vollstreckungshindernis darstellt, verläuft, brauchte der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung noch nicht zu entscheiden (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 02.02.2022 – 2 LB 184/21, juris Rn. 32).

Vorliegend kann jedenfalls nicht mit dem Grad an Gewissheit, der zur Verneinung hinreichender Erfolgsaussichten nötig wäre, ausgeschlossen werden, dass die Schwangerschaft der Antragstellerin zu 2. am 15.02.2021 ein Vollstreckungshindernis darstellte. Die überwiegende verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung geht davon aus oder zieht zumindest in Erwägung, dass eine Verteilung kurz vor und kurz nach der Entbindung mit Rücksicht auf die Gesundheit der Schwangeren und des un- bzw. neugeborenen Kindes regelmäßig ausscheidet (vgl. OVG Niedersachsen, Beschl. v. 11.01.2013 – 11 B 6467/13, juris Rn. 20; OVG Hamburg, Beschl. v. 26.10.2006 – 3 B 118/06, juris Rn. 4; VG Hamburg, Beschl. v. 23.04.2008 – 4 E 891/08, juris Rn. 4; a.A. dagegen wohl VG Wiesbaden, Beschl. v. 21.02.2006 – 4 G 240/06, juris Rn. 22). Es spricht einiges dafür, dass dem sowohl auf der Ebene des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG (bei rechtzeitigem Nachweis) als auch für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Zwangsandrohung (bei späterem Nachweis) zu folgen ist. Zur Konkretisierung des Zeitraums, in dem eine Verteilung bzw. deren Vollstreckung in der Regel rechtlich unmöglich ist, dürfte auf die Mutterschutzzeit nach § 3 Abs. 1, 2 MuSchG zurückzugreifen sein. Diese Vorschrift beruht auf der Wertung des Gesetzgebers, dass in diesem Zeitraum bei einer erheblichen psychischen oder physischen Belastung der Schwangeren eine Gefahr für sie oder ihr Kind nicht von der Hand zu weisen ist (vgl. VG Oldenburg, Beschl. v. 01.11.2013 – 11 B 6467/13, juris Rn. 11). Eine Verteilung in eine Aufnahmeeinrichtung eines anderen Bundeslandes gegen den Willen der Schwangeren dürfte regelmäßig eine erhebliche psychische Belastung mit sich bringen.

b) Allerdings führt nicht jedes vorübergehende Vollstreckungshindernis zur Rechtswidrigkeit der Zwangsmittelandrohung. Es liegt auf der Hand, dass vorübergehende Erkrankungen, die nur wenige Tage oder Wochen andauern, nicht zwangsläufig die Aufhebung der Zwangsmittelandrohung zur Folge haben, denn sie schließen die zwangsweise Verbringung des Ausländers an den Zuweisungsort in angemessener Zeit nicht generell aus. Soweit der Gesundheitszustand des Ausländers lediglich kurzzeitig der Vollstreckung der Umverteilungsentscheidung entgegensteht, kann diese vorübergehend aufgeschoben werden, ohne dass es einer (gerichtlichen) Aufhebung der Zwangsmittelandrohung bedarf. Wenn das Vollstreckungshindernis dagegen absehbar über mehrere Monate besteht, ist die Zwangsmittelandrohung des Verteilungsbescheides im Klageverfahren aufzuheben bzw. im Eilverfahren die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 02.02.2022 – 2 LB 184/21, juris Rn. 39). Dies hat der Senat z.B. bei einem im Zeitpunkt seiner Entscheidung voraussichtlich noch drei Monate andauernden Vollstreckungshindernis angenommen (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 02.02.2022 – 2 LB 184/21, juris Rn. 39). [...]