OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 04.04.2022 - 2 B 291/21 - asyl.net: M30601
https://www.asyl.net/rsdb/m30601
Leitsatz:

Keine länderübergreifende Verteilung bei unerlaubter Einreise wegen Psychotherapie:

1.  Eine Vertrauensbeziehung zwischen Therapeut*in und Patient*in im Rahmen einer Psychotherapie ist schützenswert und kann einen zwingenden Grund gegen eine länderübergreifende Verteilung darstellen. Da eine solche Vertrauensbeziehung nicht beliebig änderbar ist, steht die Verfügbarkeit von Psychotherapie in einem anderen Bundesland dem nicht notwendigerweise entgegen. Therapeut*innenwechsel sind zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, sie bedürfen in der Regel jedoch einer mehrmonatigen Vorbereitung. Dies gilt auch, wenn die Beziehung noch im Aufbau ist.

 2. Legt eine Person substantiierte Nachweise für einen zwingenden Grund gegen die Verteilung nach § 15a Abs. 1 AufenthG vor, die lediglich in einzelnen Punkten lückenhaft oder erläuterungsbedürftig sind, hat die Behörde darauf hinzuweisen und Gelegenheit zur Ergänzung der Nachweise zu geben. Die Regelung des § 15a Abs. 1 S. 6 AufenthG hebt den Amtsermittlungsgrundsatz insoweit nicht auf.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Verteilungsverfahren, psychische Erkrankung, Darlegungslast, Amtsermittlung, unerlaubte Einreise, länderübergreifende Umverteilung, Umverteilung, medizinische Versorgung, Attest,
Normen: AufenthG § 15a Abs. 1, AufenthG § 15a Abs. 1 S. 6, VwVfG § 24,
Auszüge:

[...]

Nachdem der Antragsteller auch nach eigenen Angaben volljährig geworden war, erließ die Antragsgegnerin unter dem 21.04.2021 einen neuen Verteilungsbescheid, mit dem sie den Antragsteller der Aufnahmeeinrichtung des Landes Niedersachsen in Bramsche zuwies. Dem Antragsteller wurde die Vollstreckung mit unmittelbarem Zwang angedroht und die sofortige Vollziehung der Zwangsmittelandrohung wurde angeordnet. [...]

Am 21.01.2021 hat der Antragsteller im Rahmen des Gerichtsverfahrens gegen die Vorspracheverpflichtung vorgetragen, dass gesundheitliche Gründe einer Verteilung entgegenstehen und ein entsprechendes Attest vorgelegt. Dieser Vortrag wurde dem Migrationsamt durch das Verwaltungsgericht vor der hier streitgegenständlichen Verteilung vom 21.04.2021 zur Kenntnis gebracht. Zwar genügte das Attest noch nicht vollständig den Anforderungen an den Nachweis eines gesundheitlichen Verteilungshindernisses. Das Attest beschreibt die traumatisierenden Ereignisse nur sehr generell mit "Erlebnissen vor und während der Flucht". Seine Vorlage hätte aber für das Migrationsamt oder die Antragsgegnerin im Rahmen der Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung (§ 24 Abs. 1, 2 BremVwVfG) und Gehörsgewährung (§ 28 Abs. 1 BremVwVfG) Anlass sein müssen, den Antragsteller auf diesen Mangel hinzuweisen und ihm Gelegenheit zur Ergänzung zu geben. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG modifiziert bzw. relativiert den Grundsatz der Amtsermittlung zwar (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 10.02.2021 – 2 B 335/20, juris Rn. 25; OVG NW, Beschl. v. 20.05.2020 – 18 B 530/20, juris Rn. 10). Die Verteilungsbehörde ist nicht gehalten, von Amts wegen nach etwaigen zwingenden Gründen zu suchen. Grundsätzlich hat der Betroffene den Sachverhalt so zu unterbreiten, dass die zuständige Behörde keine eigenen Ermittlungen mehr anzustellen braucht (OVG NW, Beschl. v. 20.05.2020 – 18 B 530/20, juris Rn. 10). Völlig aufgehoben ist der Amtsermittlungsgrundsatz indes nicht. Legt der Betroffene substantiierte Nachweise für einen "zwingenden Grund" vor (hier: grundsätzlich schlüssiges ärztliches Attest), die lediglich in einzelnen Punkten noch lückenhaft oder erläuterungsbedürftig sind, ist es für die Behörde zumutbar und zum effektiven Schutz der Grundrechte des Ausländers (hier: Leben und Gesundheit, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) geboten, ihm durch einen Hinweis und die Setzung einer kurzen neuen Stellungnahmefrist Gelegenheit zur Ergänzung zu geben. [...]

2. Das Attest des psychiatrischen Behandlungszentrums ... vom .2021 macht in Verbindung mit dem Vortrag des Antragstellers im gerichtlichen Verfahren für die Bedürfnisse des Eilverfahrens hinreichend glaubhaft, dass eine Verteilung des Antragstellers zu einer wesentlichen Verschlechterung seines psychischen Gesundheitszustandes (Destabilisierung; Dissoziation) führen würde. [...]

Die psychiatrische Behandlung des Antragstellers im Klinikum ... erfolgt ausweislich des Attestes nicht nur in medikamentöser Form, sondern auch durch regelmäßige Gespräche. Nach dem Attest ist davon auszugehen, dass es bei Abbruch der Maßnahmen u.a. zu einer Destabilisierung und Dissoziationen kommen wird. Damit wird – mangels Ausführungen zu einer Suizidalität – zwar keine Lebensgefahr, aber doch eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes prognostiziert.

Der Antragsteller kann nicht auf die grundsätzlich im gesamten Bundesgebiet bestehende Möglichkeit der Behandlung einer psychischen Erkrankung (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 31.07.2014 - 1 B 177/14, juris Rn. 8 f., juris) verwiesen werden. Für die Bedürfnisse eines Eilverfahrens ist das Bestehen einer schutzwürdigen Therapeuten-Patienten-Beziehung, auf deren Fortbestehen der Antragsteller dringend angewiesen ist, hinreichend glaubhaft gemacht. Der Umstand, dass psychische Erkrankungen auch in Niedersachsen grundsätzlich behandelbar sind, führt daher nicht dazu, dass eine Verteilung zum gegenwärtigen Zeitpunkt möglich ist. Psychotherapie ist eine Vertrauensbeziehung, die man nicht von heute auf morgen ändern kann. Zwar sind Therapeutenwechsel nicht gänzlich ausgeschlossen, bedürfen aber in der Regel einer mehrmonatigen zeitlichen Vorbereitung (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 02.02.2022 – 2 LB 184/21, juris Rn. 35). Dass die Behandlungsbeziehung im maßgeblichen Zeitpunkt der Veranlassung der Verteilung erst seit wenigen Monaten bestand, führt zu keinem anderen Ergebnis. Schützenswert kann bei psychotherapeutischen Behandlungen auch eine erst vor kurzem begonnene Beziehung zu der behandelnden Person sein. Ein Wechsel der Therapeutin oder des Therapeuten kann gerade zu Beginn einer Therapie problematisch sein, wenn sich die Vertrauensbeziehung im Aufbau befindet (OVG Bremen, Urt. v. 02.02.2022 – 2 LB 184/21 –, Rn. 25, juris). [...]