Die Wiedereinführung von Kontrollen an den EU-Binnengrenzen für mehr als sechs Monate verstößt gegen Unionsrecht:
1. Die in Art. 25 Schengener Grenzkodex (VO 2016/399) vorgesehene vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen ist durch Art. 25 Abs. 4 SGK zeitlich begrenzt. Wenn die dort festgelegte Höchstdauer von sechs Monaten überschritten wird und keine neue Bedrohung vorliegt, die eine erneute Anwendung der in Art. 25 SGK vorgesehenen Zeiträume rechtfertigen würde, sind Kontrollen unzulässig.
2. Eine nationale Regelung, die Personen unter Sanktionsandrohung verpflichtet, bei Einreise über eine Binnengrenze einen Reisepass oder Personalausweis vorzuzeigen, ist unionsrechtswidrig, wenn die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen gegen Art. 25 Abs. 4 SGK verstößt.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
26 Wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen ergibt, hat die Republik Österreich seit dem 16. September 2015 Kontrollen an ihren Grenzen zu Ungarn und der Republik Slowenien wiedereingeführt. In den ersten beiden Monaten wurden diese Kontrollen auf Art. 25 der Verordnung Nr. 562/2006 (jetzt Art. 28 des Schengener Grenzkodex) gestützt. Ab dem 16. November 2015 stützte sich die Republik Österreich auf die Art. 23 und 24 der Verordnung Nr. 562/2006 (jetzt Art. 25 und 27 des Schengener Grenzkodex). Ab dem 16. Mai 2016 stützte sich dieser Mitgliedstaat auf vier aufeinanderfolgende Empfehlungen des Rates nach Art. 29 des Schengener Grenzkodex, um diese Kontrollen für weitere 18 Monate durchzuführen. Die vierte dieser Empfehlungen lief am 10. November 2017 aus.
27 Am 12. Oktober 2017 teilte die Republik Österreich den anderen Mitgliedstaaten und mehreren Unionsorganen, darunter der Kommission, eine Wiedereinführung von Kontrollen an ihren Grenzen zu Ungarn und der Republik Slowenien für sechs Monate, für den Zeitraum vom 11. November 2017 bis zum 11. Mai 2018, mit. Diese Kontrollen wurden sodann für mehrere aufeinanderfolgende Zeiträume von sechs Monaten erneut wiedereingeführt, vom 11. Mai bis zum 11. November 2018, dann vom 12. November 2018 bis zum 12. Mai 2019 und vom 13. Mai bis zum 13. November 2019. Weitere Mitteilungen durch diesen Mitgliedstaat erfolgten, um die Kontrollen bis November 2021 wiedereinzuführen.
28 Am 16. November 2019 wurde NW, der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens, gemäß § 12a Abs. 1 des Grenzkontrollgesetzes einer Grenzkontrolle unterzogen, als er im Begriff war, mit seinem Personenkraftwagen von Slowenien kommend am Grenzübergang Spielfeld (Österreich) nach Österreich einzureisen. [...]
31 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die Verordnung Nr. 114/2019 über Grenzkontrollen sowie § 24 Abs. 1 des Passgesetzes, das durch diese Verordnung durchgeführt wird, u. a. im Hinblick auf das in Art. 21 Abs. 1 AEUV und in Art. 45 Abs. 1 der Charta verankerte und durch die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 konkretisierte Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern mit dem Unionsrecht und insbesondere mit den Bestimmungen des Schengener Grenzkodex vereinbar sind. [...]
54 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 25 des Schengener Grenzkodex, der sich mit den Art. 26 bis 35 in Titel III Kapitel II ("Vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen") dieses Kodex befindet, den allgemeinen Rahmen für eine solche Wiedereinführung bei einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in einem Mitgliedstaat vorsieht und u. a. Höchstzeiten festlegt, innerhalb deren solche Kontrollen wiedereingeführt werden können. Insbesondere ist einem Mitgliedstaat nach Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung solcher Kontrollen für einen begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen oder für die vorhersehbare Dauer dieser Bedrohung, wenn ihre Dauer den Zeitraum von 30 Tagen überschreitet, gestattet. In jedem Fall darf die Dauer der vorübergehenden Wiedereinführung dieser Kontrollen nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung dieser Bedrohung unbedingt erforderlich ist. Nach Art. 25 Abs. 3 des Schengener Grenzkodex kann der Mitgliedstaat diese Kontrollen für weitere Zeiträume von höchstens 30 Tagen verlängern, wenn die betreffende Bedrohung anhält. Schließlich darf zwar nach Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex der Gesamtzeitraum der Wiedereinführung solcher Kontrollen – einschließlich etwaiger Verlängerungen nach Abs. 3 dieses Artikels – höchstens sechs Monate betragen, doch kann dieser Gesamtzeitraum auf zwei Jahre verlängert werden, wenn außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 29 des Schengener Grenzkodex vorliegen. [...]
62 Insoweit ist klarzustellen, dass sich ein Mitgliedstaat zwar auf "neue Umstände" im Sinne von Art. 25 Abs. 3 des Schengener Grenzkodex berufen kann, um die Verlängerung von Kontrollen an den Binnengrenzen für weitere Zeiträume von höchstens 30 Tagen zu rechtfertigen, dass diese Umstände jedoch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Bedrohung stehen müssen, die ursprünglich die Wiedereinführung von Kontrollen gerechtfertigt hat, da die Verlängerung der Kontrollen nach dem Wortlaut dieser Bestimmung "aus den in Absatz 1 des [Art. 25 des Schengener Grenzkodex] genannten Gründen" vorzunehmen ist.
63 Zweitens ist festzustellen, dass Art. 25 des Schengener Grenzkodex, soweit er die Möglichkeit der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen der Union vorsieht, im Hinblick auf die allgemeine Systematik dieses Kodex eine Ausnahme von dem in Art. 22 dieses Kodex vorgesehenen Grundsatz darstellt, wonach die Binnengrenzen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden dürfen. Nach seinem Art. 1 sieht der Schengener Grenzkodex nämlich gerade vor, dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Union überschreiten.
64 Wie der Gerichtshof entschieden hat und wie im 27. Erwägungsgrund des Schengener Grenzkodex ausgeführt wird, sind Ausnahmen und Abweichungen von der Freizügigkeit eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juni 1986, Kempf, 139/85, EU:C:1986:223, Rn. 13, und vom 10. Juli 2008, Jipa, C-33/07, EU:C:2008:396, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Vor diesem Hintergrund heißt es in den Erwägungsgründen 21 bis 23 des Schengener Grenzkodex, dass in einem Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist und der eine der größten Errungenschaften der Union nach Art. 3 Abs. 2 EUV darstellt, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen eine Ausnahme bleiben und nur als letztes Mittel eingesetzt werden sollte.
66 Der Umstand, dass Art. 25 des Schengener Grenzkodex somit eng auszulegen ist, spricht gegen eine Auslegung von Art. 25 Abs. 4 dieses Kodex, wonach das Anhalten der ursprünglich festgestellten Bedrohung, selbst wenn sie anhand neuer Umstände beurteilt wird oder die Notwendigkeit und die Verhältnismäßigkeit der zur Bewältigung dieser Bedrohung eingerichteten Kontrollen im Hinblick auf Art. 25 Abs. 1 a. E. des Schengener Grenzkodex neu bewertet werden, ausreicht, um die Wiedereinführung dieser Kontrollen über den in Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex vorgesehenen Zeitraum von höchstens sechs Monaten hinaus zu rechtfertigen. Eine solche Auslegung liefe nämlich darauf hinaus, in der Praxis die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen wegen derselben Bedrohung für unbestimmte Zeit zu erlauben und damit den Grundsatz der Abwesenheit von Kontrollen an den Binnengrenzen, wie er in Art. 3 Abs. 2 EUV verankert ist und in Art. 67 Abs. 2 AEUV wiederholt wird, zu beeinträchtigen. [...]
78 In Anbetracht der Erwägungen in den Rn. 57 bis 77 des vorliegenden Urteils ist davon auszugehen, dass der in Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex für die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen vorgesehene Gesamtzeitraum von höchstens sechs Monaten zwingend ist, so dass seine Überschreitung zwangsläufig dazu führt, dass alle nach Ablauf dieses Zeitraums gemäß den Art. 25 und 27 dieses Kodex wiedereingeführten Kontrollen an den Binnengrenzen mit dem Schengener Grenzkodex unvereinbar sind.
79 Aus diesen Erwägungen ergibt sich auch, dass ein solcher Zeitraum nur dann erneut angewandt werden kann, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass eine neue ernsthafte Bedrohung für seine öffentliche Ordnung oder seine innere Sicherheit vorliegt. In diesem Fall kann davon ausgegangen werden, dass neue Zeiträume von bestimmter Dauer im Sinne von Art. 25 des Schengener Grenzkodex zu laufen beginnen, sofern dieser Mitgliedstaat alle in den Art. 26 bis 28 dieses Kodex vorgesehenen Kriterien und Verfahrensvorschriften beachtet. [...]
81 Daher ist stets im Hinblick auf diese Umstände und Ereignisse zu beurteilen, ob nach Ablauf des in Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex vorgesehenen Höchstzeitraums von sechs Monaten die Bedrohung, der sich dieser Mitgliedstaat ausgesetzt sieht, gleich bleibt oder ob es sich um eine neue Bedrohung handelt, die es dem Mitgliedstaat ermöglicht, unmittelbar nach Ablauf dieses Zeitraums von sechs Monaten die Kontrollen an den Binnengrenzen so fortzusetzen, dass dieser neuen Bedrohung begegnet wird. Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass, wie die Kommission im Wesentlichen geltend macht, das Auftreten einer neuen Bedrohung, die sich von der ursprünglich festgestellten unterscheidet, eine erneute Anwendung der in Art. 25 dieses Kodex für die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen vorgesehenen Zeiträume rechtfertigen kann, sofern die übrigen maßgeblichen Voraussetzungen erfüllt sind.
82 Im vorliegenden Fall scheint die Republik Österreich – wie die Kommission geltend macht, was aber vom vorlegenden Gericht zu prüfen sein wird – seit dem 10. November 2017, dem Tag des Ablaufs der letzten der vier auf der Grundlage von Art. 29 des Schengener Grenzkodex angenommenen Empfehlungen des Rates, nicht nachgewiesen zu haben, dass eine neue Bedrohung nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex vorliegt, die es gerechtfertigt hätte, die in diesem Artikel vorgesehenen Fristen erneut in Gang zu setzen, und die es somit ermöglicht hätte, davon auszugehen, dass die beiden Kontrollmaßnahmen gegenüber NW vom 29. August 2019 bzw. vom 16. November 2019 innerhalb der in Art. 25 Abs. 4 dieses Kodex vorgesehenen Gesamthöchstdauer von sechs Monaten durchgeführt wurden. [...]
86 Der AEU-Vertrag sieht jedoch, wie der Gerichtshof entschieden hat, ausdrückliche Abweichungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit nur in seinen Art. 36, 45, 52, 65, 72, 346 und 347 vor, die ganz bestimmte außergewöhnliche Fälle betreffen. Die in Art. 72 AEUV vorgesehene Ausnahme ist eng auszulegen, wie es ständiger Rechtsprechung entspricht. Daraus folgt, dass Art. 72 AEUV nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er die Mitgliedstaaten ermächtigt, durch bloße Berufung auf ihre Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit von den Bestimmungen des Unionsrechts abzuweichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C-808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 214 und 215 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). [...]
88 Mit diesem Rahmen soll gerade ein angemessenes Gleichgewicht, wie es in Art. 3 Abs. 2 EUV in Aussicht genommen wird, zwischen einerseits dem Ziel der Union, einen Raum ohne Binnengrenzen zu schaffen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, und andererseits geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität sichergestellt werden.
89 In Anbetracht der grundlegenden Bedeutung, die dem freien Personenverkehr unter den in Art. 3 EUV genannten Zielen der Union zukommt, und der Erwägungen in den Rn. 58 bis 77 des vorliegenden Urteils zur detaillierten Art und Weise, in der der Unionsgesetzgeber die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, in diese Freiheit durch die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen einzugreifen, eingegrenzt hat und die von dem Willen zeugt, die verschiedenen in Rede stehenden Interessen gegeneinander abzuwägen, ist folglich davon auszugehen, dass der Unionsgesetzgeber der Ausübung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten im Bereich der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit gebührend Rechnung getragen hat, indem er die in Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex niedergelegte Regel über die Gesamthöchstdauer von sechs Monaten vorgesehen hat.
90 Daraus folgt, dass Art. 72 AEUV es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, für einen Zeitraum, der über die in Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex ausdrücklich vorgesehene Höchstdauer von sechs Monaten hinausgeht, vorübergehende Kontrollen an den Binnengrenzen, die auf die Art. 25 und 27 des Schengener Grenzkodex gestützt sind, wiedereinzuführen, um einer ernsthaften Bedrohung seiner öffentlichen Ordnung oder seiner inneren Sicherheit zu begegnen. [...]
96 Mit der dritten Frage in der Rechtssache C-369/20 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der ein Mitgliedstaat eine Person bei Androhung einer Sanktion dazu verpflichtet, bei der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats über eine Binnengrenze einen Reisepass oder einen Personalausweis vorzuzeigen, wenn die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen, in deren Rahmen diese Verpflichtung auferlegt wird, gegen diese Bestimmung verstößt.
97 Insoweit genügt der Hinweis, dass, wie der Gerichtshof entschieden hat, eine Sanktionsregelung nicht mit den Bestimmungen des Schengener Grenzkodex vereinbar ist, wenn sie auferlegt wird, um die Einhaltung einer Pflicht zur Duldung einer Kontrolle sicherzustellen, die ihrerseits nicht im Einklang mit diesen Bestimmungen steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2018, Touring Tours und Travel und Sociedad de Transportes, C-412/17 und C-474/17, EU:C:2018:1005, Rn. 72).
98 Folglich ist auf die dritte Frage in der Rechtssache C-369/20 zu antworten, dass Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der ein Mitgliedstaat eine Person bei Androhung einer Sanktion dazu verpflichtet, bei der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats über eine Binnengrenze einen Reisepass oder einen Personalausweis vorzuzeigen, wenn die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen, in deren Rahmen diese Verpflichtung auferlegt wird, gegen diese Bestimmung verstößt. [...]