VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 07.03.2022 - 34 K 363.18 A - asyl.net: M30594
https://www.asyl.net/rsdb/m30594
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für chronisch kranken staatenlosen Palästinenser hinsichtlich des Libanon:

Für staatenlosen Palästinenser*innen ist eine umfassende Gesundheitsversorgung im Libanon nicht mehr gewährleistet. Sie sind von der libanesischen Krankenversicherung ausgeschlossen, und das UNRWA kann aufgrund seiner chronischen Unterfinanzierung ihre medizinischen Bedürfnisse nicht abdecken.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Libanon, Palästinenser, Krankheit, medizinische Versorgung, chronische Erkrankung, Bluttransfusion, staatenlose Palästinenser,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßstäben ist das Gericht überzeugt, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für den Kläger im Libanon aus gesundheitlichen Gründen die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht, die zwingend gegen seine Abschiebung spricht. [...]

Der Libanon war bis in den letzten Jahren ein wirtschaftlich vergleichsweise gut situiertes Land (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg, 2. März 2021, S. 1). Seit dem Jahr 2019 befindet sich das Land aber in einer schweren Finanz- und Wirtschaftskrise, die als eine der schwersten Krisen weltweit seit Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. [...]

Von der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise ist auch die Gesundheitsversorgung der allgemeinen Bevölkerung des Libanon betroffen. [...]

2. Von dieser allgemeinen schwierigen sozioökonomischen Lage sind staatenlose Palästinenser im Libanon spezifisch betroffen: [...]

Viele Palästinenser im Libanon leben in Armut. Flüchtlinge im Libanon sind noch stärker als libanesische Staatsangehörige von Armut und den Folgen der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen (vgl. KAS/Triangle, Going Hungry: The Empty Plates and Pockets of Lebanon, S. 4). Es ist davon auszugehen, dass die Lage für Palästinenser im Libanon sowohl in als auch außerhalb der palästinensischen Lager zunehmend prekär wird (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg, 2. März 2021, S. 4). [...]

Vor dem Hintergrund der Erkenntnislage ist das Gericht zwar nicht überzeugt, dass für Palästinenser im Libanon, die auf ein familiäres oder soziales Netzwerk zurückgreifen können und nicht besonders vulnerabel sind, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie ihre existentiellen Lebensbedürfnisse nicht befriedigen können (vgl. Urteil der Kammer vom 24. November 2021 - VG 34 K 326.18 A - Juris Rn. 59 ff.). Eine ausreichende Gefährdung kann jedoch aufgrund der sehr schwierigen Lebensbedingungen von Palästinensern im Libanon bei krankheitsbedingt vulnerablen Palästinensern vorliegen.

So verhält es sich hier. Das Gericht ist überzeugt, dass dem Kläger aus gesundheitlichen Gründen bei einer Rückkehr in den Libanon mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, weil sich sein Gesundheitszustand erheblich, schnell und irreversibel verschlechtern wird mit der Folge intensiven Leids oder einer erheblichen Herabsetzung seiner Lebenserwartung. [...]

Es besteht die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Libanon keine ausreichende medizinische Versorgung mehr erlangen wird. Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger im Libanon nicht mehr die benötigten Bluttransfusionen in Anspruch nehmen kann. Wie sich aus den oben dargestellten Erkenntnismitteln ergibt, ist schon bei libanesischen Staatsangehörigen aufgrund der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise die Versorgung mit Medikamenten bei chronischen Krankheiten schwierig. Bei staatenlosen Palästinensern im Libanon ist eine umfassende Gesundheitsversorgung nicht mehr gewährleistet. Wie dargestellt, sind sie von der libanesischen Krankenversicherung ausgeschlossen. Das UNRWA kann angesichts seiner chronischen Unterfinanzierung nicht die medizinischen Bedürfnisse vieler kranker Palästinenser abdecken. [...]