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OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 08.12.2021 - 5 Bf 385/19 - asyl.net: M30575
https://www.asyl.net/rsdb/m30575
Leitsatz:

Kein Anspruch auf Einbürgerung unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit:

"1. Für die Erfüllung der Voraussetzungen der Einbürgerung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG (juris: RuStAG) trägt der Ausländer die Darlegungs- und Beweislast. Dies gilt auch für die Tatsachen, aus denen der Ausländer hinsichtlich des Absehens von der Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG  (juris: RuStAG) nach § 12 Abs. 1 StAG (juris: RuStAG) für ihn günstige Rechtsfolgen ableiten will (Rn.37).

2. Eine vom ausländischen Staat für die Entlassung der Staatsangehörigkeit gestellte Bedingung ist im Sinne von § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Alt. 2 StAG  (juris: RuStAG) unzumutbar, wenn sie schon abstrakt-generell betrachtet nach den Wertungen der deutschen Rechtsordnung nicht hinnehmbar ist. Nach verbreiteter Ansicht ist sie darüber hinaus unzumutbar, wenn sie sich konkret-individuell betrachtet für den Ausländer in nicht hinnehmbarer Weise auswirkt (Rn. 41).

3. Es ist einem Ausländer grundsätzlich zumutbar, seine staatsangehörigkeitsrechtlichen Verhältnisse für die Entlassung zu ordnen. Dass die Ordnung der personenstandsrechtlichen Angelegenheiten keine unzumutbare Entlassungsbedingung bildet, setzt jedoch voraus, dass der Einbürgerungsbewerber eine realistische Chance hat, diese Entlassungsvoraussetzung unter zumutbaren Bedingungen erfüllen zu können (Rn. 41).

4. Hat der Kläger seinen Antrag im Antragsformular nur auf § 10 StAG  (juris: RuStAG) und nicht (auch) auf § 8 StAG (juris: RuStAG) bezogen, ist dieser Erklärung bei Fehlen entgegenstehender Anhaltspunkte unzweifelhaft der Wille zu entnehmen, dass die Prüfung auf die Anspruchseinbürgerung nach § 10 StAG (juris: RuStAG) beschränkt sein soll (Rn. 71)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Einbürgerung, Ermessenseinbürgerung, Aufgabe der Staatsangehörigkeit, Hinnahme von Mehrstaatigkeit, besonders schwierige Bedingungen, Zumutbarkeit, Reisepass,
Normen: StAG § 10, StAG 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Alt. 2,
Auszüge:

[...]

35 I. Die vom Berufungsgericht zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 27. Mai 2019 ist begründet. Das Verwaltungsgericht durfte die Beklagte nicht unter Aufhebung des Bescheides vom 23. November 2016 und des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 2017 dazu verpflichten, den Kläger einzubürgern. Der ablehnende Bescheid und der Widerspruchsbescheid sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Einbürgerung in den deutschen Staatsverband. Ein solcher Anspruch ergibt sich weder aus § 10 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 22. Juli 1913 (RGBl. I S. 583, zuletzt geändert am 12. August 2021, BGBl. I S. 3538; StAG) (hierzu 1.) noch aus § 8 StAG (hierzu 2.). [...]

37 Zu den Voraussetzungen der Einbürgerung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG, für deren Erfüllung der Ausländer die Darlegungs- und Beweislast trägt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 27.11.2017, 1 B 149/17, juris Rn. 4; Urt. v. 1.9.2011, 5 C 27/10, BVerwGE 140, 311, juris Rn. 25; Urt. v. 27.7.2006, 5 C 3/05, BVerwGE 126, 283, juris Rn. 27; Beschl. v. 8.5.1996, 1 B 68/95, Buchholz 130 § 8 RuStAG Nr 48, juris Rn. 11; OVG Münster, Beschl. v. 5.3.2009, 19 A 1657/06, AuAS 2009, 151, juris Rn. 9), gehört, dass der Ausländer seine bisherige Staatsangehörigkeit aufgibt oder verliert (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG). Diese Voraussetzung erfüllt der Kläger – auch nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten – nicht, da er seine armenische Staatsangehörigkeit weder aufgegeben hat noch im Falle der Einbürgerung verlöre. Von der Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG ist entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht nach § 12 Abs. 1 StAG abzusehen. [...]

39 aa) Der Ausnahmetatbestand in § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Alt. 1 StAG greift nicht ein, da der armenische Staat die Entlassung des Klägers aus der armenischen Staatsangehörigkeit nicht aus Gründen versagt hat, die der Kläger nicht zu vertreten hat. Die Versagung aus vom Ausländer nicht zu vertretenden Gründen setzt eine endgültige ablehnende Entscheidung über den Entlassungsantrag voraus (VGH Mannheim, Urt. v. 22.1.2014, 1 S 923/13, DÖV 2014, 403 (Ls.), juris Rn. 37; Berlit, in: Fritz/Vormeier, Gemeinschaftskommentar zum Staatsangehörigkeitsrecht, November 2015, § 12 StAG Rn. 77 und 82; Hailbronner/Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Auflage 2017, § 12 StAG Rn. 18). Daran fehlt es hier. [...]

40 bb) Die armenische Botschaft hat die Entlassung des Klägers aus der armenischen Staatsangehörigkeit auch nicht im Sinne von § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Alt. 2 StAG von unzumutbaren Bedingungen abhängig gemacht, indem sie die Vorlage eines gültigen armenischen Nationalpasses verlangt hat.

41 Eine vom ausländischen Staat gestellte Bedingung ist im Sinne von § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Alt. 2 StAG unzumutbar, wenn sie schon abstrakt-generell betrachtet nach den Wertungen der deutschen Rechtsordnung nicht hinnehmbar ist. Nach verbreiteter Ansicht ist sie darüber hinaus unzumutbar, wenn sie sich konkret-individuell betrachtet für den Ausländer in nicht hinnehmbarer Weise auswirkt. Das Bundesverwaltungsgericht hat bisher offengelassen, ob auch die letztgenannten Fälle von § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Alt. 2 StAG erfasst werden (BVerwG, Urt. v. 21.2.2013, 5 C 9/12, BVerwGE 146, 89, juris Rn. 17). Das Berufungsgericht kann diese Frage ebenfalls offenlassen, da die Vorlage eines gültigen armenischen Nationalpasses weder abstrakt-generell noch konkret-individuell für den Kläger unzumutbar ist. Es ist einem Ausländer grundsätzlich zumutbar, seine staatsangehörigkeitsrechtlichen Verhältnisse für die Entlassung zu ordnen. Dass die Ordnung der personenstandsrechtlichen Angelegenheiten keine unzumutbare Entlassungsbedingung bildet, setzt jedoch voraus, dass der Einbürgerungsbewerber eine realistische Chance hat, diese Entlassungsvoraussetzung unter zumutbaren Bedingungen erfüllen zu können (BVerwG, Urt. v. 3.5.2007, 5 C 3/06, BVerwGE 129, 20, juris Rn. 22). Gemessen an diesen Vorgaben macht die armenische Botschaft die Entlassung des Klägers aus der armenischen Staatsangehörigkeit nicht von unzumutbaren Bedingungen abhängig, indem sie die Vorlage eines gültigen armenischen Nationalpasses verlangt. Es ist nicht zu erkennen, dass der Kläger keine realistische Chance hätte, einen solchen armenischen Nationalpass zu erlangen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des bisherigen Geschehensablaufs sowohl in den Jahren 2004 bis 2006 (hierzu (1)) als auch ab dem Jahr 2011 (hierzu (2)).

42 (1) Aus den Geschehnissen in den Jahren 2004 bis 2006 lässt sich nicht schließen, dass dem Kläger die Erlangung eines armenischen Nationalpasses nicht möglich wäre. [...]

48 (2) Die Geschehnisse ab dem Jahr 2011 rechtfertigen nicht die Annahme, dass dem Kläger die Erlangung eines armenischen Nationalpasses nicht möglich wäre. [...]

50 (a) Es ist bereits nicht nachvollziehbar, weshalb der Kläger die individuellen Absprachen der Beklagten mit der armenischen Botschaft nicht zeitnah umgesetzt hat. [...]

52 (b) Es ist auch nicht zu erkennen, dass der Kläger nachfolgend bei der armenischen Botschaft einen förmlichen Antrag auf Ausstellung eines neuen Passes unter Vorlage der seitens der Botschaft genannten Unterlagen (Fotokopie des alten Reisepasses, armenische Geburtsurkunde, vier Passbilder und deutsche Meldebestätigung) gestellt hat. Diesen der Sphäre des Klägers zuzuordnenden Umstand, aus dem er für ihn positive Rechtsfolgen herzuleiten beabsichtigt und für den er deshalb die Darlegungs- und Beweislast trägt, hat er weder nachvollziehbar dargelegt noch nachgewiesen. [...]

58 (cc) Entgegen der in der mündlichen Verhandlung geäußerten Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Klägers kann nicht ohne weiteres unterstellt werden, dass der Kläger bei seinen Vorsprachen bei der Botschaft das zur Beantragung eines neuen Passes Erforderliche (förmliche Antragstellung und Vorlage der von der Botschaft genannten Unterlagen) getan haben werde, weil dies einfach und für ihn ausschließlich vorteilhaft gewesen wäre. Denn diese Vorgehensweise und die nachfolgende Entlassung aus der armenischen Staatsangehörigkeit hätte gegenüber einer Einbürgerung unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit, wie sie der Schilderung des Klägers zufolge bei seinem Sohn erfolgt ist, den Nachteil, dass der Kläger nicht mehr armenischer Staatsangehöriger wäre. [...]

60 cc) Der Ausnahmetatbestand in § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Alt. 3 StAG, der voraussetzt, dass der ausländische Staat über den vollständigen und formgerechten Entlassungsantrag nicht in angemessener Zeit entschieden hat, greift bereits deshalb nicht ein, weil der Kläger einen solchen vollständigen und formgerechten Entlassungsantrag bisher nicht gestellt hat. [...]

71 a) Die Voraussetzungen der Einbürgerung im Ermessenswege nach § 8 StAG sind nicht zu prüfen. Der Antrag eines Ausländers auf Einbürgerung in den deutschen Staatsverband ist zwar grundsätzlich sowohl im Verwaltungsverfahren als auch im gerichtlichen Verfahren unter sämtlichen denkbaren Anspruchsgrundlagen zu prüfen. Der Antrag ist regelmäßig auf die Einbürgerung in den deutschen Staatsverband gerichtet, unabhängig davon, auf welcher Rechtsgrundlage diese beruht. Dies gilt allerdings nicht, wenn der Einbürgerungsbewerber von der Möglichkeit Gebrauch macht, seinen Antrag auf eine bestimmte Rechtsgrundlage zu beschränken. Eine solche Beschränkung setzt eine eindeutige Erklärung des Ausländers voraus, der ein entsprechender Wille unzweifelhaft zu entnehmen ist (BVerwG, Urt. v. 20.3.2012, 5 C 1/11, BVerwGE 142, 132, juris Rn. 13; Urt. v. 20.4.2004, 1 C 16.03, BVerwGE 120, 305, juris Rn. 19). Hier hat der Kläger seinen Antrag bereits im Antragsformular vom 13. August 2010 nur auf § 10 StAG und nicht (auch) auf § 8 StAG bezogen. Dieser Erklärung im Antrag ist unzweifelhaft der Wille zu entnehmen, dass die Prüfung auf die Anspruchseinbürgerung nach § 10 StAG beschränkt sein soll. Auch im nachfolgenden Verfahren hat sich der rechtsanwaltlich vertretene Kläger nicht (ergänzend) auf § 8 StAG gestützt, obwohl die Beklagte im ablehnenden Bescheid sowie im Widerspruchsbescheid hierzu ebenfalls Ausführungen gemacht hat. [...]