VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 21.03.2022 - 1 K 417/21 - asyl.net: M30570
https://www.asyl.net/rsdb/m30570
Leitsatz:

Kosten einer Zurückschiebung sind zügig und vorrangig gegenüber Schleuser*innen zu erheben:

1. Für die Kosten einer Zurückschiebung haften Personen, die gemäß § 96 AufenthG strafbare Handlungen begehen, vorrangig (§ 66 Abs. 4 S. 1 Nr. 4 AufenthG). Gegenüber einer grundsätzlich zahlungspflichtigen Person dürfen Erstattungsansprüche erst dann und nur insoweit durchgesetzt werden, als die Kosten von vorranging in Anspruch zu nehmenden Kostenschuldner*innen (hier: dem Schleuser) nicht beigetrieben werden können. Im Streitfall ist die Behörde hierfür darlegungs- und beweispflichtig.

2. Im Aufenthaltsrecht muss den rechtstaatlich problematischen Auswirkungen der Verlängerung der Verjährung gemäß § 70 AufenthG durch eine zügige, konsequente und hinreichend strenge Handhabung von Erstattungsansprüchen vorgebeugt werden. Eine Kostenfestsetzung über acht Jahre nach der (gescheiterten) Zurückschiebung begründet in zeitlicher Hinsicht Verwirkung. Treten besondere Umstände hinzu, welche die verspätete Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen, ist der Anspruch verwirkt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungskosten, Zurückschiebung, Kosten, Kostenerstattung, Verwirkung,
Normen: AufenthG § 66 Abs. 1, AufenthG § 66 Abs. 4 Nr. 4, AufenthG § 67 Abs. 1, AufenthG § 67 Abs. 3, AufenthG § 70,
Auszüge:

[...]

Rechtsgrundlage für den angefochtenen Kostenbescheid sind die §§ 66 Abs. 1 und 4, 67 Abs. 1 und 3 AufenthG. Danach hat ein Ausländer die Kosten zu tragen, die durch die Zurückschiebung entstehen. Die Erstattungspflicht erstreckt sich auf diejenigen Kosten, die in einem sachlichen Zusammenhang mit der Zurückschiebung stehen und dem Ziel dienen, die Zurückschiebung zu verwirklichen oder ihre Vereitelung zu verhindern (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Mai 2014 - BVerwG 1 C 3.13, juris Rn. 18; Urteil vom 29. Juni 2000 - BVerwG 1 C 25.99, juris Rn. 15). Erstattungsfähig sind die Kosten für diese Maßnahmen auch dann, wenn es letztlich zu einer Zurückschiebung des Ausländers nicht kommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Mai 2014, a.a.O., m.w.N.). Für die Kosten, die durch die Zurückschiebung entstehen, haften nach § 66 Abs. 4 AufenthG unter jeweils im Einzelnen festgelegten Voraussetzungen Arbeitgeber, Auftraggeber von Subunternehmern, Generalunternehmer sowie Personen, die nach § 96 AufenthG strafbare Handlungen begehen, und zwar vorrangig vor den betroffenen Ausländern. Gegenüber einem grundsätzlich zahlungspflichtigen Ausländer dürfen Erstattungsansprüche daher erst dann und nur insoweit durchgesetzt werden, als die Kosten von den anderen Kostenschuldnern nicht beigetrieben werden können (§ 66 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 AufenthG); im Streitfall ist hierfür die Behörde darlegungs- und ggf. beweispflichtig (BVerwG, Urteil vom 8. Mai 2014, a.a.O., Rn. 14).

1. Nach diesen Maßgaben scheitert eine Heranziehung der Klägerin schon daran, dass die Beklagte ihrer Darlegungs- und Beweislast nicht gerecht geworden ist, die Kosten gegenüber dem nach § 96 AufenthG verurteilten Schleuser hinreichend beigetrieben zu haben.

Die Beklagte ist zwar gegenüber dem Schleuser als vorrangig haftendem Kostenschuldner im Anschluss an dessen rechtskräftige Verurteilung durch das Amtsgericht Offenburg vorgegangen. Nicht zu beanstanden ist insofern, dass die Beklagte den Ausgang des Strafverfahrens abwartete. Jedoch entsprechen die anschließend unternommenen Vollstreckungsbemühungen gegenüber dem Schleuser nicht den genannten Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts. In zeitlicher Hinsicht ist bereits problematisch, dass die Beklagte den Leistungsbescheid gegen ihn erst zu einem Zeitpunkt erließ, als er sich schon wieder im Ausland befand. Diese zeitliche Verzögerung hat die Beklagte, anders als von ihr vorgebracht, zu vertreten. [...]

Auch kann die Beklagte die Bekanntgabe des Bescheids vom 25. August 2014 oder der Mahnung vom 12. November 2014 gegenüber dem Schleuser nicht nachweisen. Für eine rechtssichere Bekanntgabe in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union hätten der Beklagten die Zustellungsmöglichkeiten nach § 9 VwZG offen gestanden. [...]

Vor diesem Hintergrund ist auch das weitere Vorgehen der Beklagten zu beanstanden. Auch wenn gegenüber dem Schleuser keine Vollstreckungsmöglichkeit des Kostenbescheids in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union gegeben sein sollte, waren Wille und Umfang der Beitreibungshandlungen nur von einem Mindestmaß an Bemühungen geprägt. [...]

Hinsichtlich der Beitreibung gegenüber dem Schleuser ist im Übrigen zu beachten, dass die Ansprüche gegenüber ihm weiterhin durchsetzbar, insbesondere nicht verjährt sind. [...]

2. Davon abgesehen scheidet eine Heranziehung der Klägerin auch deshalb aus, weil der Anspruch zwar nicht verjährt (dazu unter a)), aber verwirkt (dazu unter b)) ist.

a) Der Anspruch ist nicht verjährt. Ansprüche aus §§ 66, 67 AufenthG verjähren gemäß § 70 Abs. 1 AufenthG sechs Jahre nach Eintritt der Fälligkeit. Danach ist noch keine Verjährung eingetreten. [...]

b) Der Anspruch ist jedoch verwirkt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Allgemeinen geklärt, dass die Verwirkung als Ausfluss des Grundsatzes von Treu und Glauben für die gesamte Rechtsordnung Gültigkeit hat. Sie bildet einen Anwendungsfall des venire contra factum proprium (Verbot widersprüchlichen Verhaltens) und besagt, dass ein Recht nicht mehr ausgeübt werden darf, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, welche die verspätete Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urteile vom 14. Dezember 1989 - BVerwG 3 C 30.87, juris Rn. 14, vom 20. Dezember 1999 - BVerwG 7 C 42.98, juris Rn. 28, vom 20. September 2001 - BVerwG 7 C 6.01, juris Rn. 15 und vom 18. August 2010 - BVerwG 8 C 39.09, juris Rn. 33). Im Aufenthaltsrecht im Speziellen muss den rechtsstaatlich problematischen Auswirkungen einer Beschränkung der Verjährung aufgrund von § 70 Abs. 1 AufenthG durch eine zügige, konsequente und hinreichend strenge Handhabung von Erstattungsansprüchen vorgebeugt werden. [...]

Ausgehend von diesen Maßstäben ist der Anspruch verwirkt. Es besteht zunächst ein hinreichendes Zeitmoment. Die Klägerin wurde durch die Geltendmachung der Forderungen erst mit Bescheid vom 9. Oktober 2020 länger als erforderlich darüber im Ungewissen gelassen, ob noch eine Erstattungsforderung auf sie zukommt. Vorliegend lagen zwischen den gescheiterten Zurückschiebungen der Klägerin, die die Kosten nach §§ 66, 67 AufenthG verursacht haben, und der Kostenfestsetzung durch die Beklagte mit Bescheid vom 9. Oktober 2020 über acht Jahre. [...]

Ferner treten besondere Umstände hinzu, welche die verspätete Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen. Diese Wertung beruht auf einer Gesamtschau der konkreten Umstände und des Vorgehens der Beklagten. [...]