VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 31.03.2022 - 9 L 60/22.A - Asylmagazin 6/2022, S. 225 - asyl.net: M30554
https://www.asyl.net/rsdb/m30554
Leitsatz:

Übergang in nationales Verfahren aufgrund unterschiedlicher Rechtsmittel von Eheleuten im Dublin-Verfahren:

1. Stellt nur ein*e Ehepartner*in einen Antrag auf Eilrechtsschutz gegen eine Dublin-Abschiebungsanordnung, wird diese mit Ablauf der Überstellungsfrist der anderen Person rechtswidrig, da die Abschiebung aufgrund des Schutzes von Ehe und Familie rechtlich unmöglich wird.

2. Aus der Tatsache, dass lediglich einer Person gegen den entsprechenden Bescheid vorgegangen ist, mit der Folge, dass für beide Personen unterschiedliche Überstellungsfristen laufen, kann nicht angenommen werden, dass die Eheleute ihre Familieneinheit aufgegeben hätten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Abschiebungsanordnung, Suspensiveffekt, Ehegatten, Überstellungsfrist, Abschiebungshindernis, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: VwGO § 80 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 2 S. 1, GG Art. 6, VO 604/2013/EU Art. 7,
Auszüge:

[...]

Die Abschiebung ist voraussichtlich rechtlich unmöglich, weil dem Antragsteller im Falle der Abschiebung nach Kroatien eine Verletzung seiner Rechte auf Schutz der ehelichen Lebensgemeinschaft aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GR-Charta droht. Aus diesem Grund kann offen bleiben, ob infolge einer solchen Verletzung der Rechte des Antragstellers eine Pflicht der Antragsgegnerin zum Selbsteintritt gemäß Art. 17 Dublin III-VO besteht. [...]

Nach diesen Maßstäben besteht für den Antragsteller ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis gemäߧ 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG. Die Durchführung des Asylverfahrens in Kroatien wäre im Einzelfall des Klägers aufgrund der damit einhergehenden Trennung von seiner Ehefrau, ..., auf unabsehbare Zeit unzumutbar.

Die Ehefrau wird in der Bundesrepublik Deutschland bleiben und kann nicht mit dem Antragsteller zusammen ihr Asylverfahren in Kroatien durchlaufen. Denn die Bundesrepublik Deutschland ist für die Prüfung ihres Asylantrages zuständig geworden, nachdem sie die Ehefrau nicht innerhalb ihrer Überstellungsfrist nach Kroatien abgeschoben hat. Die Dauer des Asylverfahrens des Antragstellers in Kroatien {inklusive eines etwaigen Gerichtsverfahrens) und das weitere Schicksal des Antragstellers dort lassen sich nicht prognostizieren. Gleiches gilt für das Asylverfahren der Ehefrau in Deutschland, sodass der Antragsteller nicht auf die Stellung eines Visumsantrages zum Ehegattennachzug verwiesen werden kann. Hinzu kommt, dass eine Trennung der Ehepartner aufgrund ihres Alters besonders schwerwiegend sein dürfte. Der Antragsteller ist bereits 77 Jahre, seine Ehefrau 71 Jahre alt. Sie haben keine Schulausbildung (vgl. Fragebögen vom 20. Juli 2021, Bl. 136 ff. VV), können nicht gut rechnen (vgl. Anhörung vom 23. Juli 2021, Bl. 119 VV). Sie haben gemeinsam Afghanistan vor etwa drei Jahren verlassen, sind gemeinsam - nach einem Aufenthalt in Griechenland (u.a. Moria) von einem Jahr und acht Monaten - nach Deutschland eingereist und wurden auch von der Antragsgegnerin gemeinsam am 23. Juli 2021 angehört. Allein aus der Tatsache, dass lediglich der Antragsteller gegen den an beide gerichteten Bescheid vom 28. Oktober 2021 vorgegangen ist (mit der Folge, dass für die Ehepartner unterschiedliche Überstellungsfristen gelten), kann - anders als die Antragsgegnerin meint - nicht angenommen werden, dass die Ehepartner ihre Familieneinheit wissentlich aufgegeben haben. Dass die Ehepartner ihre Familieneinheit in tatsächlicher Hinsicht allein durch ihre divergierende Entscheidung zur Einlegung von Rechtsmitteln, die ihnen individuell per Gesetz zusteht, aufgeben, ist nicht erkennbar. Für eine derartige rechtliche Vermutung bedürfte es einer entsprechenden gesetzlichen Rechtsgrundlage.

Die Eheleute können auch - jedenfalls vor Entscheidung über ihre Asylanträge - nicht auf eine Herstellung der Familieneinheit in Afghanistan verwiesen werden, weil sie sich gerade in Bezug auf Afghanistan auf Asyl bzw. Flüchtlingsschutz berufen. [...]