OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.11.2021 - 4 B 13/21 - asyl.net: M30550
https://www.asyl.net/rsdb/m30550
Leitsatz:

Keine Flüchtlingseigenschaft aufgrund von Entziehung oder Desertion vom eritreischen Nationaldienst:

"1. Die einem Dienstpflichtigen in Eritrea wegen einer Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst oder illegaler Ausreise im dienstpflichtigem Alter drohende Inhaftierung und/oder die (anschließende) Heranziehung zum Nationaldienst knüpft nach der derzeitigen Erkenntnislage nicht an eine ihm zugeschriebene politische Überzeugung oder ein anderes flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal an (Rn. 26).

2. Die Beteiligung der eritreischen Armee am Tigray-Konflikt rechtfertigt nicht die Annahme, dass die Strafverfolgung wegen Entziehung vom Nationaldienst mit einem flüchtlingsschutzerheblichen Merkmal verknüpft ist (Rn. 45)."

(Amtliche Leitsätze)

Siehe auch:

Schlagwörter: Eritrea, Upgrade-Klage, Aufstockungsklage, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Nationaldienst, Tigray, Kriegsverbrechen, politische Verfolgung, Desertion,
Normen: AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5
Auszüge:

[...]

25 Ein Ausländer wird wegen einer politischen Überzeugung verfolgt, wenn dies geschieht, weil er eine bestimmte Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung in einer Angelegenheit vertritt, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft. Dabei genügt es, dass dem Ausländer diese Überzeugung von seinem Verfolger zugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Die politische Überzeugung wird in erheblicher Weise unterdrückt, wenn ein Staat mit Mitteln des Strafrechts oder in anderer Weise auf Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen schon deshalb zugreift, weil dieser seine mit der Staatsraison nicht übereinstimmende politische Meinung nach außen bekundet und damit notwendigerweise eine geistige Wirkung auf die Umwelt ausübt und meinungsbildend auf andere einwirkt. Hiervon kann insbesondere auszugehen sein, wenn er eine Behandlung erleidet, die härter ist, als sie sonst zur Verfolgung ähnlicher – nichtpolitischer – Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat üblich ist (sog. "Politmalus"). Demgegenüber liegt grundsätzlich keine Sanktionierung einer politischen Überzeugung vor, wenn die staatliche Maßnahme allein der Durchsetzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht dient. Dies gilt auch für Sanktionen, die an eine Wehrdienstentziehung anknüpfen, selbst wenn diese von totalitären Staaten verhängt werden. Solche Maßnahmen begründen nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Furcht vor Verfolgung, wenn sie den Betroffenen über die Ahndung des allgemeinen Pflichtverstoßes hinaus wegen asylerheblicher Merkmale, insbesondere wegen einer wirklichen oder vermuteten, von der herrschenden Staatsdoktrin abweichenden politischen Überzeugung treffen sollen. Indizien hierfür können ein unverhältnismäßiges Ausmaß der Sanktionen oder deren diskriminierender Charakter sein (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. April 2017 – 1 B 22.17 – juris Rn. 14 sowie Urteile vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 21 f. und vom 4. Juli 2019 – 1 C 33.18 – juris Rn. 14, jeweils m.w.N.).

26 Ausgehend von diesen Maßstäben sprechen bei einer Gesamtbetrachtung und Würdigung der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel gewichtigere Indizien gegen die Annahme, dass die einem Dienstpflichtigen in Eritrea wegen einer Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst oder illegaler Ausreise im dienstpflichtigem Alter drohende Inhaftierung und/oder die (anschließende) Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes an eine ihm zugeschriebene politische Überzeugung oder ein anderes flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal anknüpft.

27 Gegen eine Anknüpfung an ein flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal ist in erster Linie anzuführen, dass sich die Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes in Eritrea nach Rechtslage und Anwendungspraxis im Wesentlichen auf alle eritreischen Staatsangehörigen ohne Unterscheidung nach flüchtlingsschutzerheblichen individuellen Persönlichkeitsmerkmalen erstreckt.

28 Nach dem maßgeblichen eritreischen Recht ist "jeder eritreische Bürger" im Alter von 18 bis 50 Jahren verpflichtet, den Nationaldienst auszuüben (Art. 6 der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst [Proclamation on National Service No. 82/1995] vom 23. Oktober 1995; englische Übersetzung abrufbar unter www.refworld.org/docid/3dd8d3af4.html, zuletzt abgerufen am 16. November 2021). Auch in der praktischen Anwendung dieser Bestimmung betrachtet der Staat Eritrea grundsätzlich alle aus seiner Sicht erwachsenen Staatsbürger bis zu einem bestimmten Alter gleichermaßen und ohne Ansehung von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen als dienstverpflichtet. Insoweit nimmt er keine Auswahl oder Auslese anhand flüchtlingsschutzrechtlicher Merkmale wie Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vor (vgl. zur Rekrutierungspraxis European Asylum Support Office [EASO], Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer- Informationsbericht, September 2019, S. 27 ff.; österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 11 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Eritrea: Nationaldienst – Themenpapier vom 30. Juni 2017, S. 8 ff.; vgl. auch OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 40 ff. m.w.N.). Das wird vor allem an der Rekrutierung jugendlicher eritreischer Staatsangehöriger zum Nationaldienst deutlich, die systematisch alle Kreise der eritreischen Bevölkerung gleichermaßen erfasst. [...]

29 Auch keine der gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen von der Dienstpflicht (Art. 12 ff. der Proklamation Nr. 82/1995) und der rein faktisch praktizierten Freistellungen knüpft an flüchtlingsschutzerhebliche Persönlichkeitsmerkmale an (vgl. Danish Immigration Service [DIS], Country Report, Country of Origin Information: Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 28 f.; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f.; vgl. auch OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 60 ff. m.w.N.). 30 Ebenso wenig ist bei der Dauer der Dienstpflicht eine Anknüpfung an flüchtlingsschutzerhebliche Merkmale feststellbar. Nach Art. 2 Abs. 2 der Proklamation Nr. 82/1995 besteht der Nationaldienst aus einem militärischen Teil ("active national service") und einem zivilen Teil, dem Reservistendienst ("reserve military service"). Der militärische Teil dauert von Gesetzes wegen 18 Monate (Art. 2 Abs. 3 der Proklamation Nr. 82/1995) und ist eine zwingende Verpflichtung für alle eritreischen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 40 Jahren (Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995). Der zivile Teil des Nationaldienstes ist nur von Gesetzes wegen ein Reservedienst. In der Praxis hingegen hat der Staat Eritrea seine Streitkräfte nach dem Grenzkrieg mit Äthiopien von 1998 bis 2000 angesichts des zunächst nur militärisch beendeten, aber formell bis Juli 2018 weiter bestehenden Kriegszustandes im Jahr 2002 auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995 im Zustand der Mobilmachung belassen, in dem auch die Reservisten weiter bis zu ihrer Entlassung dienstpflichtig sind (Art. 2 Abs. 4 der Proklamation Nr. 82/1995, frühere "no war no peace"-Situation). Der Zustand der Mobilmachung dauert bis heute an, obwohl der Kriegszustand mit Äthiopien seit dem Friedensabkommen vom 9. Juli 2018 inzwischen auch formell beendet ist. Auf dieser Grundlage zieht der Staat Eritrea seine Staatsangehörigen unterschiedslos regelmäßig zu einer die 18- Monats-Grenze weit überschreitenden, langjährigen Dienstleistung heran. Nur in Einzelfällen werden Angehörige des Nationaldienstes schon nach den gesetzlich vorgesehenen 18 Monaten entlassen. Die Angaben über die Altersgrenzen, bis zu denen die Staatsangehörigen als dienstpflichtig angesehen werden, variieren bei Männern zwischen 50 und 57 Jahren. Bei Frauen scheint eine informelle Altersgrenze von 27 Jahren häufig angewendet zu werden, aber es gibt auch Frauen mit über 40 Jahren, die nach wie vor Dienst leisten (vgl. Auswärtiges Amt [AA], Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 25. Januar 2021, S. 14 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 11; DIS, Country Report, Country of Origin Information: Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 17 f.; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 35 ff.).

31 Sind nach alledem praktisch sämtliche erwachsenen eritreischen Staatsbürger gleichermaßen ohne Ansehung ihrer Persönlichkeitsmerkmale von der Nationaldienstpflicht betroffen, fehlt es an Anhaltspunkten dafür, dass die Heranziehung zum Nationaldienst als solche bzw. eine etwaige unmenschliche Behandlung während dieses Dienstes an eine dem Kläger unterstellte regimegegnerische politische Überzeugung anknüpft (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 36; OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 39; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 40; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 25 ff.; OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. August 2020 – 4 LA 167/20 – juris Rn. 3 f.; VGH Mannheim, Urteil vom 8. Juli 2021 – A 13 S 403/20 – juris Rn. 30; VGH München, Urteil vom 5. Februar 2020 – 23 B 18.31593 – juris Rn. 28, 33; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 37 ff.; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 20 f.). Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Schilderungen des Klägers zu der Sanktionierungspraxis während seiner militärischen Ausbildung. [...] Diese Ausführungen lassen nicht erkennen, dass der Kläger über den Zweck der Disziplinierung hinaus gezielt wegen einer unterstellten politischen Gesinnung bestraft worden sein könnte. Sie stimmen vielmehr mit den Erkenntnissen überein, nach denen Bestrafungen in militärischen Ausbildungslagern und im militärischen Teil des Nationaldienstes willkürlich sind und Haft unter härtesten Bedingungen, Folter und andere Misshandlungen umfassen. Schon geringe Verstöße gegen die militärische Disziplin können zu drakonischen Strafen bis hin zu Schlägen und Folter führen. Die konkreten Umstände im Militärdienst hängen von dem jeweiligen Kommandanten ab (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 9, 11; EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 38 f.; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 40 f.; Human Rights Watch [HRW], "They Are Making Us into Slaves, Not Educating Us", August 2019, S. 37 ff.; HRW, World Report 2021 – Eritrea, 13. Januar 2021, S. 2; Pro Asyl, Eritrea im Fokus – Das Willkürregime wird verharmlost, der Flüchtlingsschutz ausgehebelt, 10. März 2020, S. 46 ff.; SFH, Eritrea: Nationaldienst – Themenpapier vom 30. Juni 2017, S. 14 f.).

32 Gegen eine Verknüpfung im Sinne des § 3a Abs. 3 AsylG zwischen etwaigen Verfolgungshandlungen während des Nationaldienstes oder bei einer wegen Desertion oder Umgehung des Nationaldienstes drohenden Inhaftierung und einer dem Dienstpflichtigen zugeschriebenen politischen Überzeugung spricht weiter, dass sich auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnisse keine generell härtere Bestrafung von Deserteuren und Dienstverweigerern feststellen lässt.

33 Nach Art. 37 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995 werden alle Verstöße gegen die Bestimmungen dieser Proklamation mit Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren und/oder Geldstrafe in Höhe von 3.000 Birr (etwa 180 Euro) geahndet, sofern sich aus dem eritreischen Strafgesetzbuch von 1991 keine härteren Strafen ergeben. Wer sich seiner Dienstpflicht in deren Kenntnis durch Flucht ins Ausland entzieht und nicht bis zum Alter von 40 Jahren zur Ableistung des Dienstes zurückkehrt, unterliegt nach Art. 37 Abs. 3 der Proklamation Nr. 82/1995 bis zum Alter von 50 Jahren einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren. Nach Art. 300 des Strafgesetzbuches von 1991 kann Dienstverweigerung und Desertion in Friedenszeiten mit bis zu fünf Jahren, in Kriegszeiten mit Haft von fünf Jahren bis lebenslänglich und in besonderen Fällen mit der Todesstrafe bestraft werden. Im Jahr 2015 wurde ein neues Strafgesetzbuch bekanntgegeben, das in Art. 119 für Desertion in Friedenszeiten Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren, in Kriegszeiten zwischen sieben und zehn Jahren vorsieht. Die Todesstrafe in Fällen der Desertion ist hiernach abgeschafft, jedoch soll das neue Strafgesetz noch keine Anwendung finden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 25. Januar 2021, S. 14, 19; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 43). Nach Art. 29 Abs. 2 der Proklamation Nr. 24/1992 ist die – auch nur versuchte – illegale Ausreise ebenfalls mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder mit einer Geldstrafe in Höhe von bis 10.000 Bir (etwa 600 Euro) bedroht (vgl. hierzu EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 56 f.).

34 Allerdings ist nach den vorliegenden Erkenntnisquellen davon auszugehen, dass in der Praxis Strafen nicht den gesetzlichen Regelungen entsprechend, sondern außergerichtlich und willkürlich verhängt werden (vgl. amnesty international [ai], Stellungnahme vom 2. August 2018 an das VG Magdeburg, S. 4; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 10, 40 f., 43 f., 57 f.; Human Rights Council [HRC], Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, Mohamed Abdelsalam Babiker, 12. Mai 2021, S. 8 f.; Staatsekretariat für Migration, Schweiz [SEM], Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 10. August 2016, S. 21, 24, 31; SFH, Schnellrecherche vom 22. September 2016 zu Eritrea: Bestrafung von illegaler Ausreise, S. 2 f.;  siehe auch OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 32; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 49; VGH Mannheim, Urteil vom 8. Juli 2021 – A 13 S 403/20 – juris Rn. 35; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 76; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 25). Bei einer Razzia oder beim illegalen Verlassen des Landes aufgegriffene Deserteure und Dienstverweigerer werden ohne Anklage und gerichtliche Entscheidung inhaftiert. Sie werden in der Haft verhört und manchmal auch gefoltert, sowohl als Verhör- als auch als Strafmaßnahme. Quellen berichten über Haftzeiten zwischen einem und zwölf Monaten als typisch, mit längeren Haftzeiten bis zu drei Jahren für Wiederholungstäter oder Dokumentenfälscher. Deserteure werden nach der Haftentlassung zu ihren Einheiten zurückgebracht, Dienstverweigerer durchlaufen üblicherweise danach das militärische Training. Nach der Rückkehr eines Deserteurs in seine militärische Einheit entscheidet der Kommandeur willkürlich über weitere Folgen. Diese können in einer weiteren Inhaftierung im Gefängnis der Einheit, möglicherweise unter Folter, aber auch in der Wiedereingliederung in die Einheit bestehen. Deserteure aus dem zivilen Teil des Nationaldienstes werden nach ihrer Haftentlassung üblicherweise an eine militärische Einheit überstellt, einige aber auch an ihren früheren Arbeitsplatz (vgl. DIS, Country Report, Country of Origin Information: Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 25 ff.; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 10, 32, 43 f., 57). Personen, die das Land vor einer Einberufung zum Nationaldienst illegal verlassen haben und im dienstpflichtigen Alter zurückkehren, werden bei der Rückkehr bereits an der Grenze inhaftiert und danach fast immer direkt zum Nationaldienst eingezogen. Daneben bleiben sie meist straffrei oder erhalten eine Strafe lediglich wegen illegalen Verlassens des Landes (vgl. EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 56 ff.).

35 Mehrere Quellen deuten allerdings darauf hin, dass Strafen für Verstöße gegen die Nationaldienstpflicht und gegen die Ausreisebestimmungen seit den Jahren 2014 bis 2016, erst recht aber seit der Einleitung des Friedensprozesses mit Äthiopien im Frühjahr 2018 und der zeitweiligen Grenzöffnung zwischen September 2018 und April 2019 milder ausfallen. Neben den Haftstrafen, die eine Spanne von wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren umfassen können, kann die Bestrafung auch nur in einer Belehrung liegen. Darüber hinaus wird über Fälle berichtet, in denen Betroffene einer Sanktionierung entgangen sind (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 25. Januar 2021, S. 23; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 28; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 10. August 2016, S. 21, 31). Dies soll vor allem darauf zurückzuführen sein, dass Fluchtversuche zu einem Massenphänomen geworden sind und sich daher die Zahl der Inhaftierten beträchtlich erhöht haben soll. Ein weiterer Grund für kürzere Haftdauern soll darin liegen, dass betroffene Personen schnell wieder dem Nationaldienst zugeführt werden sollen, weil die große Anzahl von Deserteuren dort erhebliche Lücken hinterlasse (vgl. ai, Stellungnahme vom 2. August 2018 an das VG Magdeburg, S. 5 f.; OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 33; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 30; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 80; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 25).

36 Derartige Motive für die Strafzumessung deuten ebenso wenig wie die einschlägigen eritreischen Strafvorschriften, die ohne Anknüpfung an individuelle Persönlichkeitsmerkmale jeden eritreischen  Staatsangehörigen gleichermaßen treffen, darauf hin, dass der Staat Eritrea Dienstverweigerern und Deserteuren, die sich im Land selbst oder durch Ausreise dem Nationaldienst entziehen, generell eine regimegegnerische Haltung zuschreibt. Im Gegenteil spricht die große Bandbreite der insoweit angedrohten und tatsächlich verhängten Strafen gegen die Annahme, die Bestrafung wegen Entziehung vom Nationaldienst oder Desertion und illegaler Ausreise diene politischen Zwecken. Würde der eritreische Staat allen Personen, die illegal ausgereist sind und dadurch die Ableistung des Nationaldienstes umgehen, generell eine Regimegegnerschaft unterstellen, wäre zu erwarten, dass er diesem Umstand in der Bestrafungspraxis auch Rechnung trägt und alle Betroffenen im Wesentlichen gleichermaßen hart bestraft. Gegen eine politische Zielrichtung spricht ferner der Zweck der Sanktionierungsmaßnahmen, die der Erzwingung von Geständnissen, Informationsgewinnung, Bestrafung für angebliches Fehlverhalten sowie der Schaffung eines allgemeinen Klimas der Angst zur Aufrechterhaltung der Disziplin und Kontrolle über die eigene Bevölkerung dienen (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 57; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 36; OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. August 2020 – 4 LA 167/20 – juris Rn. 3 f.; VGH Mannheim, Urteil vom 8. Juli 2021 – A 13 S 403/20 –
juris Rn. 46; VGH München, Urteil vom 5. Februar 2020 – 23 B 18.31593 – juris Rn. 48; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 106; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 27).

37 Von einer hinter der Bestrafung stehenden politischen Motivation des eritreischen Staates ist auch nicht wegen der willkürlichen und außergerichtlichen Sanktionierungspraxis und wegen der  menschenrechtswidrigen Bedingungen während der Haft auszugehen. Denn diese Strafvollstreckungspraxis wegen der hier in Rede stehenden Delikte unterscheidet sich nicht von derjenigen bei anderen Delikten. Sie ist vielmehr Ausdruck des totalitären Herrschaftsanspruchs des Regimes, dessen Durchsetzung gegenüber der Bevölkerung für sich genommen an kein flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal anknüpft (vgl. auch OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 34; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 57; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 33, 37; VGH Mannheim, Urteil vom 13. Juli 2021 – A 13 S 1563/20 – juris Rn. 57; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 27). So sind Verhaftungen ohne Haftbefehl und ohne Angabe von Gründen auch sonst üblich. Militärgerichte, vor denen keine Rechtsanwälte zugelassen sind, können jedes Verfahren an sich ziehen (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 25. Januar 2021, S. 8, 14; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 7 f.; EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 28; United States Department of State [USDOS], Eritrea 2020, Human Rights Report, 30. März 2021, S. 5 f.). Die potentiell alle eritreischen Staatsangehörigen gleichermaßen treffenden Haftbedingungen werden generell als prekär und unmenschlich beschrieben. Die Zellen sind häufig überbelegt. Die hygienischen Bedingungen sind schlecht. Die Versorgung mit Trinkwasser ist ebenso wie eine medizinische Versorgung nicht gewährleistet. Essensrationen sind knapp und wenig nahrhaft. Folter und Misshandlungen sollen sowohl zur Beschaffung von Informationen und Geständnissen als auch als Teil der Bestrafung eingesetzt werden. Es wird unter anderem von Schlägen mit – teilweise benagelten – Stöcken und dem Festbinden von Häftlingen in gekrümmter Haltung berichtet. Teilweise werden die Gefangenen in unterirdischen Zellen oder auch in Schiffscontainern eingesperrt, die aufgrund des Klimas in Eritrea tagsüber sehr heiß und nachts sehr kalt werden können (vgl. ai, Stellungnahme vom 2. August 2018 an das VG Magdeburg, S. 4 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 9, 17 f.; EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 45 ff.; HRC, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, Mohamed Abdelsalam Babiker, 12. Mai 2021, S. 8 f.; USDOS, Eritrea 2020, Human Rights Report, 30. März 2021, S. 3 f.). [...]

38 Bei der Würdigung ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass die Flucht vor dem Nationaldienst bereits seit Jahren ein Massenphänomen ist. Im Jahr 2019 verließen mehr als 70.000 Eritreer ihr Heimatland. Inzwischen soll geschätzt die Hälfte der eritreischen Staatsangehörigen im Ausland leben (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 25. Januar 2021, S. 22, 28; Bundeszentrale für politische Bildung [bpb], Der lange Arm des Regimes – Eritrea und seine Diaspora, 16. April 2020, S. 2; HRC, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 11. Mai 2020, S. 14). Bei einem solchen Massenexodus muss auch dem eritreischen Staat bewusst sein, dass der Großteil der Emigranten Eritrea in erster Linie aufgrund der prekären Lebensbedingungen im Nationaldienst und der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit verlässt, nicht hingegen vorrangig wegen einer regimefeindlichen Haltung (ebenso OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 37; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 63; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 39, 43; OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. August 2020 – 4 LA 167/20 – juris Rn. 3 f.; VGH Mannheim, Urteil vom 8. Juli 2021 – A 13 S 403/20 – juris Rn. 47; VGH München, Urteil vom 5. Februar 2020 – 23 B 18.31593 – juris Rn. 55; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 89; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 28). Hierfür spricht auch, dass die Praxis, Familienangehörige von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern systematisch mit Strafmaßnahmen zu belegen, eingestellt wurde (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 25. Januar 2021, S. 22; EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 43; SFH, Reflexverfolgung, Rückkehr und "Diaspora-Steuer", Auskunft vom 30. September 2018, S. 6 f.).

39 Ein gewichtiges Argument gegen eine Anknüpfung an das flüchtlingsschutzerhebliche Merkmal der politischen Überzeugung ist weiter darin zu sehen, dass der Staat Eritrea unter dem Eindruck des Massenexodus bei Auslandseritreern aus ökonomischen Gründen auf den staatlichen Strafanspruch verzichtet, indem er ihnen Straffreiheit durch Unterzeichnung einer "Reueerklärung" und Zahlung einer "Diaspora-Steuer" gewährt. [...]

41 Demgegenüber ist für die Annahme einer Verknüpfung im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG zwischen Verfolgungshandlungen während des Nationaldienstes bzw. während einer Haft wegen Umgehung dieses Dienstes und einer dem Dienstpflichtigen zugeschriebenen oppositionellen politischen Überzeugung inzwischen nur noch von geringerem Gewicht, dass der Staat Eritrea den Nationaldienst in der Zeit nach der Staatsgründung und nach dem Grenzkrieg mit Äthiopien als politisches Projekt neben der Verteidigung zum Zweck des Wiederaufbaus des Landes und als "Schule der Nation" zur Vermittlung einer nationalen Ideologie an die Jugend konstituiert hat und ihm dementsprechend bis heute eine ideologische und politische Bedeutung beimisst (vgl. EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 24 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst – Themenpapier vom 30. Juni 2017, S. 6 f.; siehe auch OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 62; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 106). [...] Der eritreische Staatsapparat stützt sich auf die Nationaldienstverpflichtung, die in ihrer derzeitigen Ausgestaltung am ehesten als eine Form staatlichen Zwangsdienstes zur Aufrechterhaltung der staatlichen Strukturen zu charakterisieren ist (vgl. USDOS, Eritrea 2020, Human Rights Report, 30. März 2021, S. 19 f.). Dies rechtfertigt die Annahme, dass die gegebenenfalls durchaus empfindliche Bestrafung der Nationaldienstentziehung oder der Desertion allein dazu dient, die bestehende Herrschaftsstruktur zu sichern und insbesondere das auf der Langzeitverpflichtung der eritreischen Staatsbürger beruhende staatliche System am Leben zu erhalten. Damit dient die Sanktionierung der Nationaldienstentziehung durch den Staat Eritrea aber nicht der Sanktionierung einer tatsächlichen oder unterstellten missliebigen politischen Überzeugung seiner Bürger, sondern der Durchsetzung der Dienstverpflichtungen im Interesse der Systemsicherung (vgl. OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 36; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 62; VGH Kassel, Urteil vom 23. Februar 2021 – 10 A 1939/20.A – juris Rn. 34; VGH München, Urteil vom 5. Februar 2020 – 23 B 18.31593 – juris Rn. 45; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 87; OVG Saarlouis, Urteil vom 21. März 2019 – 2 A 10/18 – juris Rn. 28). Hierfür spricht auch, dass die eritreische Regierung zwar angekündigt hatte, den Nationaldienst in Konsequenz aus dem Friedensprozess mit Äthiopien in Zukunft grundsätzlich auf 18 Monate zu beschränken und weitere Ausnahmen zuzulassen, dies aber vor allem deshalb noch nicht umgesetzt hat, weil die gesamte Volkswirtschaft auf dem Nationaldienst aufbaut und eine Demobilisierung zu einer durch die eingeschränkt vorhandene Privatwirtschaft nicht aufzufangenden hohen Arbeitslosigkeit führen würde (vgl. DIS, Country Report, Country of Origin Information: Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 18 f.; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 9, 23 f.).

42 Soweit für die eritreischen Grenztruppen seit 2004 ein Schießbefehl ("shoot-to-kill order") bei illegalem Fluchtversuch bestehen soll, kommt diesem Indiz für eine generelle Unterstellung einer Regimegegnerschaft ebenfalls keine durchgreifende Bedeutung mehr zu. [...]

43 Diese Gesamtwürdigung steht im Einklang mit der inzwischen einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung, nach welcher der Staat Eritrea Dienstverweigerern und Deserteuren sowie deren Familienangehörigen eine gegnerische politische Überzeugung nicht generell zuschreibt, sondern nur dann, wenn hierfür einzelfallbezogen besondere Anhaltspunkte vorliegen [...]

44 Etwas anderes folgt auch nicht aus § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Nach dieser Vorschrift kann die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt eine Verfolgungshandlung sein, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG (Art. 12 Abs. 2 RL 2011/95/EU) fallen. Diese erfassen Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

45 Zwar ist die Regierung Eritreas – wohl weiterhin – im Konflikt um die Autonomiebestrebungen in der äthiopischen Region Tigray auf Seiten der äthiopischen Regierung involviert und es wird von einer Beteiligung der eritreischen Armee an Gewalttaten und Massakern unter der Zivilbevölkerung in dieser Region berichtet (vgl. hierzu Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 8. November 2021, Äthiopien, abrufbar unter www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw45-2021.pdf; HRW, Äthiopien: Angriffe auf eritreische Geflüchtete in Tigray, 29. September 2021, abrufbar unter www.hrw.org/de/news/2021/09/29/aethiopien-angriffe-auf-eritreische-gefluechtete-tigray; tagesschau, Äthiopien, Erneute Offensive auf Tigray, 15. Oktober 2021, abrufbar unter www.tagesschau.de ausland/afrika/tigray-offensive-diekhans-101.html; tagesschau, Konflikt in Äthiopien, UN beklagen "extreme Brutalität", 3. November 2021, abrufbar unter www.tagesschau.de/ausland/afrika/aethiopien-ausnahmezustand-107.html; zdf, Bürgerkrieg in Tigray, Äthiopien an der "Grenze zum Völkermord", 13. Oktober 2021, abrufbar unter www.zdf.de/nachrichten/politik/aethiopienbuergerkrieg-voelkermord-hunger-100.html, jeweils zuletzt abgerufen am 16. November 2021). Hieraus ergibt sich aber nicht, dass die besonderen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG erfüllt sind (vgl. auch OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 68).

46 Jedenfalls im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers herrschte noch kein bewaffneter Konflikt unter Beteiligung des eritreischen Militärs im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, während und aufgrund dessen ("in einem Konflikt") er sich dem Nationaldienst entzogen hätte (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2021 – 4 Bf 546/19.A – juris Rn. 66 f.; siehe auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 – OVG 3 B 109.18 – juris Rn. 57). Aber auch wenn auf eine Dienstverweigerung des Klägers bei einer Rückkehr abgestellt würde, führte dies nicht weiter. Insbesondere könnte er sich nicht auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 – C-238/19 – berufen, nach dem eine starke Vermutung dafür spricht, dass eine Verknüpfung der Strafverfolgung der Wehrdienstentziehung mit einem flüchtlingsrelevanten Merkmal vorliegt, wenn die Entziehung in einem Konflikt erfolgt, in dem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 RL 2011/95/EU (§ 3 Abs. 2 AsylG) fallen (vgl. Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 – juris Rn. 57 ff.).

47 Denn es steht nicht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bei einer hypothetischen Heranziehung zum Nationaldienst "zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich" veranlasst wäre, im Rahmen des Tigray-Konflikts Kriegsverbrechen zu begehen. Diese Prüfung obliegt den staatlichen Behörden und Gerichten im Einzelfall. Die Tatsachenwürdigung muss sich auf ein Bündel von Indizien stützen, das geeignet ist, in Anbetracht aller relevanten Umstände – insbesondere der mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, sowie der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers – zu belegen, dass die Gesamtsituation die Begehung der behaupteten Kriegsverbrechen plausibel erscheinen lässt (zu alledem EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 – juris Rn. 34 f.). Das ist hier nicht der Fall. Der Tigray-Konflikt ist nicht auf eritreischem, sondern auf äthiopischem Boden. Diese Situation ist nicht mit dem Sachverhalt vergleichbar, der dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 – C-238/19 – zugrunde lag. Denn die dort angenommene sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzgebiet dazu veranlasst werde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von § 3 Abs. 2 AsylG teilzunehmen, betrifft den Kontext eines allgemeinen (dort syrischen) Bürgerkriegs im Herkunftsland des Betroffenen, der durch die wiederholte und systematische Begehung solcher Verbrechen oder Handlungen durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 – juris Rn. 37 f.; siehe auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 – OVG 3 B 109.18 – juris Rn. 56; OVG Münster, Beschluss vom 14. Dezember 2020 – 19 A 2706/18.A – juris Rn. 11). Außerdem fehlen gesicherte Erkenntnisse zum Umfang der Beteiligung des eritreischen Militärs an dem in erster Linie äthiopischen Konflikt. Überdies unterteilt sich der Nationaldienst in einen militärischen und in einen zivilen Teil. Auch wenn es unterschiedliche Angaben zur Anzahl der Angehörigen im militärischen und im zivilen Teil gibt, lässt sich den Erkenntnissen entnehmen, dass jedenfalls weniger als die Hälfte im Militär dient (vgl. hierzu BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 12; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25 f., jeweils m.w.N.).

48 Etwaige Verfolgungshandlungen während der Ableistung des Nationaldienstes oder bei einer (möglichen) Bestrafung/Inhaftierung des Klägers wegen Entziehung von diesem Dienst knüpfen auch nicht an den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an. Deserteure und Dienstleistungsverpflichtete bilden unter den eritreischen Staatsangehörigen keine "bestimmte soziale Gruppe" im Sinne dieser Normen. Angesichts der die eritreische Bevölkerung ausnahmslos treffenden Dienstverpflichtung kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Gruppe der Dienstverpflichteten im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würde und daher eine deutlich abgegrenzte Identität besäße. Für die Gruppe der Entzieher vom Nationaldienst bzw. der Deserteure kann wegen der massenhaften Begehung des Delikts nichts anderes gelten. Die Strafgesetze, welche die Desertion und die Entziehung vom Nationaldienst sanktionieren, treffen ebenfalls unterschiedslos alle eritreischen Staatsangehörigen. Es ist nicht erkennbar, dass diejenigen, die jene Strafgesetze verletzen, von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würden und daher in Eritrea eine deutlich abgegrenzte Identität hätten (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 32, 36; OVG Bautzen, Urteil vom 14. April 2021 – 6 A 100/19.A – juris Rn. 40; VGH München, Urteil vom 5. Februar 2020 – 23 B 18.31593 – juris Rn. 37; OVG Münster, Beschluss vom 21. September 2020 – 19 A 1857/19.A – juris Rn. 118). [...]