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LG Hamburg

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Zitieren als:
LG Hamburg, Beschluss vom 29.03.2022 - 329 T 53/20 - asyl.net: M30545
https://www.asyl.net/rsdb/m30545
Leitsatz:

Ingewahrsamnahme mangels unverzüglicher gerichtlicher Entscheidung rechtswidrig: 

1. Die gerichtliche Entscheidung über eine nicht geplante Festnahme nach § 62 Abs. 5 AufenthG muss gemäß Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG unverzüglich eingeholt werden. Unverzüglich ist die Herbeiführung dann, wenn die richterliche Entscheidung ohne jede vermeidbare Verzögerung nachgeholt wird. Die fehlende Möglichkeit, ein Gericht zu erreichen, kann nicht ohne weiteres als unvermeidbares Hindernis gelten, denn die Gerichtsverwaltungen haben die Erreichbarkeit zuständiger Richter*innen zur Tageszeit, auch außerhalb der üblichen Dienstzeiten, stets zu gewährleisten. 

2. Im Falle eines ungeplanten Aufgreifens um 14:15 Uhr ist es noch möglich, eine richterliche Anordnung für denselben Tag zu organisieren. Wird dies unterlassen, ist die Anordnung nicht unverzüglich eingeholt worden und die Ingewahrsamnahme nach § 62 Abs. 5 AufenthG bis zur Anhörung am nächsten Tag rechtswidrig.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, ungeplante Festnahme, Ingewahrsamnahme, Haftbeschluss, planbare Festnahme,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 5, GG Art. 104 Abs. 2 S. 2, FamFG § 58, FamFG § 428 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde ist auch begründet. Die Freiheitsentziehung des Betroffenen verstößt gegen § 62 Abs. 5 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG, da eine richterliche Entscheidung nicht unverzüglich herbeigeführt wurde.

Unverzüglich ist die Herbeiführung dann, wenn die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt wird. Nicht vermeidbar sind zum Beispiel Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein renitentes Verhalten des Festgenommenen oder vergleichbare Umstände bedingt sind (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 19. Januar 2007 - 2 BvR 1206/04 -, Rn. 16, juris). Die fehlende Möglichkeit, einen Richter zu erreichen, kann nicht ohne weiteres als unvermeidbares Hindernis für die unverzügliche Nachholung der richterlichen Entscheidung gelten. Die Gerichtsverwaltungen haben nämlich die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters zur Tageszeit, auch außerhalb der üblichen Dienstzeiten, stets zu gewährleisten (Marschner/Lesting/Stahmann/Stahmann, 6. Aufl. 2019, FamFG § 428 Rn. 3).

Es wäre zur Überzeugung der Kammer nach Aufgreifen des Betroffenen und Information der Beteiligten um 14:15 Uhr noch möglich gewesen, eine richterliche Anhörung für den selben Tag zu organisieren, ohne dass auf einen nächtlichen Bereitschaftsdienst hätte zurückgegriffen werden müssen. Es kann somit dahinstehen, wie der Bereitschaftsdienst im Geschäftsverteilungsplan des Amtsgerichtes geregelt ist. Die Beteiligte hätte das Amtsgericht frühzeitig (z.B. telefonisch) über den Bedarf einer Haftanhörung für denselben Tag informieren müssen, so dass der/die zuständige Richterin zur Verfügung gestanden hätte. Dies war jedenfalls um 14:15 Uhr noch möglich. Es hätte nach Kenntnis des Aufgreifens bis zu einer Anhörung noch genügend Zeit zur Verfügung gestanden, um zumindest einen Antrag zu formulieren und dem Amtsgericht zur Prüfung zukommen zu lassen.

Die Beteiligte hätte eine richterliche Entscheidung noch am selben Tag einholen müssen und den Betroffenen nur bis zu diesem Zeitpunkt gemäß § 62 Abs. 5 AufenthG in Gewahrsam halten dürfen. Die nahezu 24 Stunden andauernde Ingewahrsamnahme ohne richterlichen Beschluss bis zur Anhörung am 13.03.2020 war somit rechtswidrig. [...]