OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18.08.2021 - 3 S 66/21 - asyl.net: M30537
https://www.asyl.net/rsdb/m30537
Leitsatz:

Geschwisternachzug trotz Eintritt der Volljährigkeit während des Verfahrens für die Schwester eines anerkannten minderjährigen Flüchtlings:

Der Anspruch auf Kindernachzug (zu den Eltern) für das Geschwisterkind eines in Deutschland anerkannten Flüchtlings erlischt nicht dadurch, dass den Eltern ein Visum erst nach Erreichen der Volljährigkeit des nachzugswilligen Kindes erteilt wird.

Beim Anspruch auf Kindernachzug nach § 32 Abs. 1 AufenthG ist für die Einhaltung der Höchstaltersgrenze der Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich. Das Abstellen auf den Zeitpunkt der Antragstellung soll verhindern, dass Rechte wegen der langen Verfahrensdauer verloren gehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, unbegleitete Minderjährige, Volljährigkeit, Beurteilungszeitpunkt, nationales Visum, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Geschwisternachzug, Geschwister, Kindernachzug,
Normen: AufenthG § 32, AufenthG § 29 Abs. 2
Auszüge:

[...]

2 Allerdings hält der Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, dass sich die Annahme der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 - juris Rn. 17 ff.; s.a. Beschluss vom 23. April 2020 - 1 C 10.19 - juris Rn. 13 ff.), der Anspruch der Eltern auf Familienzusammenführung mit einem im Bundesgebiet lebenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gehe unter, wenn das Kind volljährig werde, im Hinblick auf das Urteil des EuGH vom 12. April 2018 (C-550/16, juris), wonach ein Drittstaatsangehöriger, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als Minderjähriger im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist, nicht mehr aufrecht erhalten lässt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. Mai 2019 - OVG 3 B 1.19 - juris Rn. 27 ff.; Beschluss vom 19. Dezember 2018 - OVG 3 S 98.18 - juris Rn. 12). Da der Antragsteller zu 1 bei Stellung seines Asylantrags im Juni 2016 noch minderjährig war, dürfte es hier ausreichen, dass die Antragsteller zu 2 und 3 ihren Visumantrag Ende Dezember 2018 und damit innerhalb von zwei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Antragstellers zu 1 durch Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. November 2018, gestellt haben (vgl. zu einer Frist von drei Monaten EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C 550/16 - juris Rn. 61). {...]

4 Nach der Rechtsprechung des Senats reicht der elterliche Besitz eines nationalen Visums als "Aufenthaltserlaubnis" für den Kindernachzug gemäß § 32 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich aus, wenn die familiäre Gemeinschaft im Bundesgebiet gelebt werden soll und dem Elternteil angesichts des erteilten Visums im Bundesgebiet ein in § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG genannter Aufenthaltstitel erteilt werden wird (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Dezember 2016 - OVG 3 S 98.16 - juris Rn. 3; Beschluss vom 19. Dezember 2018 - OVG 3 S 98.18 - juris Rn. 12; Beschluss vom 6. Juni 2019 - OVG 3 M 96.19 - juris Rn. 4). Für letzteres spricht hier zum einen, dass der Anspruch auf Familienzusammenführung auch nach Eintritt der Volljährigkeit des zunächst noch minderjährigen Flüchtlings seiner praktischen Wirksamkeit (zu diesem Gesichtspunkt vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 - juris Rn. 55) beraubt würde, wenn sich der Erteilung eines Visums nicht ein Aufenthalt zumindest von einer gewissen Dauer anschließen würde (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Dezember 2018 - OVG 3 S 98.18 - juris Rn. 12), zum anderen die gerichtsbekannte Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, das aus Syrien stammenden Antragstellern regelmäßig (jedenfalls) subsidiäre Schutzberechtigung nach § 4 AsylG zuerkennt, die seit dem 1. August 2018 (Art. 1 Nr. 6, Art. 6 des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes vom 12. Juli 2018, BGBl. I S. 1147) Grundlage eines Familiennachzugsanspruchs aus humanitären Gründen nach § 36a AufenthG sein kann.

5 Der Auffassung des Verwaltungsgerichts und der Antragsgegnerin, ein Nachzugsanspruch der Antragstellerin zu 4 erlösche, wenn ihren Eltern das erstrebte Visum erst erteilt werde, nachdem sie selbst das 18. Lebensjahr vollendet hat, ist nicht zu folgen. Beim Anspruch auf Kindernachzug nach § 32 Abs. 1 AufenthG ist - abweichend von der für die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen regelmäßig zugrunde zu legenden Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz - für die Einhaltung der Höchstaltersgrenze der Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich, weil anderenfalls der mit der Regelung verfolgte Zweck, Kindern unter 16 oder 18 Jahren die Herstellung der Familieneinheit im Bundesgebiet zu ermöglichen, vielfach aufgrund des Zeitablaufs während des Verfahrens entfiele (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 - juris Rn. 18; Urteil vom 7. April 2009 - 1 C 17.08 - juris Rn. 10; Urteil vom 26. August 2008 - 1 C 32.07 - juris Rn. 17; Urteil vom 18. November 1997 - 1 C 22.96 - juris Rn. 20). Das Abstellen auf den Zeitpunkt der Antragstellung soll verhindern, dass das nachzugswillige Kind ihm an sich zustehende Rechte wegen der Verfahrensdauer allein durch Zeitablauf verliert. [...]