VG Minden

Merkliste
Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 11.03.2022 - 4 K 3717/19.A - asyl.net: M30519
https://www.asyl.net/rsdb/m30519
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen Mann aus Myanmar wegen exilpolitischer Aktivitäten:

1. Trotz des Militärputsches im Februar 2021 ist nicht davon auszugehen, dass allein aufgrund der Asylantragstellung im Ausland eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht. 

2. Auch wegen niedrigschwelliger exilpolitischer regimekritischer Aktivitäten auf Demonstrationen und in den sozialen Medien drohen staatliche Repressionen sowie Folter und Inhaftierung in Zusammenhang mit Rückkehrerbefragungen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Myanmar, Asylantrag, Asylantragstellung, regimefeindliche Handlung, illegaler Auslandsaufenthalt, illegale Einreise, unerlaubte Einreise, unerlaubter Auslandsaufenthalt, Willkür, Behördenwillkür, Flüchtlingsanerkennung, Rückkehrbefragung, Exilpolitik, Soziale Medien,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Dies zu Grunde gelegt, kann der Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen.

Es kann als nicht entscheidungserheblich dahinstehen, ob der Kläger mit den im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt vorgetragenen Umständen vor seiner Ausreise aus Myanmar ein individuelles Verfolgungsschicksal glaubhaft geschildert hat, aus dem sich ergibt, dass er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Herkunftslandes befindet.

Jedenfalls droht ihm bei einer gebotenen Gesamtbetrachtung des Einzelfalls unter Berücksichtigung der sog. Nachfluchtgründe aufgrund einer ihm vom myanmarischen Regime beachtlich wahrscheinlich zugeschriebenen politischen, regimekritischen Einstellung im Fall seiner Rückkehr nach Myanmar mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgung. Interner Schutz steht ihm nicht zur Verfugung. Dem Kläger droht allein wegen der Asylantragstellung in Deutschland keine politische Verfolgung im Heimatland. Die Kammer legt - wie vor dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 - zu Grunde, dass der bloße Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland keinen Straftatbestand in Myanmar konstituiert. Personen, die in Deutschland lediglich einen Asylantrag stellen, ohne eine sonstige Straftat nach myanmarischem Recht begangen zu haben, müssen bei einer Rückkehr nach Myanmar nicht mit Repressalien rechnen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Leipzig vom 11. Dezember 2020).

Dass sich hieran durch den Putsch etwas geändert haben konnte, ist nicht erkennbar. Dem Auswärtigen Amt und der erkennenden Kammer liegen keine diesbezüglichen Erkenntnisse vor.

Die vorgetragenen Änderungen im myanmarischen Strafgesetzbuch ("Penal Code" Art. 121, 124, 505a) werden seit dem 14. Februar 2021 angewandt. Das Gesetz wird von den machthabenden Behörden und Strukturen auch durchgesetzt. Es liegen jedoch keine Anhaltspunkte vor, dass eine vor der Machtergreifung durch das Militär im Ausland erfolgte Asylantragstellung einen pauschalen Straftatbestand nach den aktuell angewandten strafrechtlichen Vorschriften darstellt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt vom 16. August 2021).

Es ist auch nicht ersichtlich, was die Militärregierung zu einer Sanktionierung von Asylanträgen veranlassen konnte, die vor ihrer Machtübernahme gestellt wurden. Eine gegen die Militärregierung gerichtete politische Einstellung wird aus solchen Asylanträgen allein jedenfalls nicht deutlich.

Dem Kläger droht auch nicht beachtlich wahrscheinlich Bestrafung wegen illegaler Ausreise aus seinem Herkunftsland.

Eine Ausreise aus Myanmar ohne behördliche Genehmigung ist illegal, ebenso Reisen in ein Land, das die betreffende Person nicht über einen offiziell berechtigten Grenzübergang erreichen konnte. Die illegale Ausreise aus Myanmar kann mit einer mehrjährigen Haftstrafe geahndet werden. Staatsangehörige Myanmars, die das Land ohne gültige Reisepapiere und somit illegal verlassen haben, machen sich nach dem Immigration Emergency Provisions Act von 1947 strafbar. Ihnen droht im Fall der Rückkehr nach Myanmar eine Haftstrafe. Gemäß den Bestimmungen des Einwanderungsgesetzes von 1949 ist jeder Einwohner Myanmars verpflichtet, einen offiziellen Ausweis zu besitzen. Personen, welche über keinen Ausweis verfugen, müssen im Falle einer Verurteilung mit bis zu zweijährigen Haftstrafen rechnen (vgl. VG München, Urteil vom 25. Juli 2017 - M 17 K 17.35494 -, juris, Rdn. 27; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Myanmar, vom 2. April 2021, Seite 53 f.).

Der Kläger hat sein Heimatland nicht illegal verlassen, sondern ist mit den erforderlichen Reisedokumenten über den internationalen Flughafen in Yangon auf dem Luftweg ausgereist.

Jedoch droht dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund seiner exilpolitischen Aktivität im Zusammenhang mit den Bedingungen einer Rückkehr und der Asylantragstellung in Deutschland eine Gefängnisstrafe und damit unverhältnismäßige Strafverfolgung oder Bestrafung wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung und somit Verfolgung (vgl. § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG). [...]

Der Kläger war zwar nach seinen Angaben in Myanmar nicht politisch tätig. Ein politisches Engagement in Myanmar gleich welcher Art wurde nicht vorgetragen. Es lässt sich mithin nicht feststellen, dass seine heute vorgebliche Haltung bereits der im Herkunftsland entsprach und sich in Deutschland fortsetzt.

Auch sind seine Aktivitäten in Deutschland grundsätzlich als geringwertig anzusehen. Nach den vorgelegten Fotos und seinem Vortrag trat er auf vier (am 22. Februar 2021 in Frankfurt am Main, am 8. März 2021 in Berlin vor der myanmarischen Botschaft und am 27. März sowie am 13. Juni 2021 in Bielefeld), mithin nicht auf zahlreichen Demonstrationen auf, hob Plakate hoch und fotografierte sich dabei bzw. wurde fotografiert. Dies geschah zusammen mit anderen Staatsangehörigen Myanmars, die sich hierzu organisierten. Der Kläger nahm hierbei keine herausgehobene Stellung ein, hatte insbesondere nicht an der Organisation mitgewirkt. Aus den zahlreichen  Meinungsbekundungen gegen das myanmarische Regime sticht der Kläger nicht hervor. Weder hat er einen auffallenden Bekanntheitsgrad noch ist er dem ersten Blick nach ohne weiteres als Teilnehmer der Demonstrationen individualisierbar.

Jedoch ist bei dem Zusammentreffen der Veröffentlichung von Regimekritik im Internet, der Asylantragstellung, der an niederster Schwelle einsetzenden Sanktionierung durch myanmarische Behörden ("Penal Code", s.o.) und den Bedingungen einer Rückkehr nach Myanmar davon auszugehen, dass das dortige Regime dem Kläger eine regimekritische Ansicht unterstellt.

Der Kläger veröffentlichte Bilder der Demonstrationen und Meinungsbekundungen zum Regime in Myanmar auf sozialen Plattformen im Internet (Facebook), mit denen er zeigt, dass er das Militär und den Militärputsch kritisiert und damit die vormalige, jedenfalls ansatzweise demokratisch legitimierte Regierung von Myanmar unterstützt. Die Kammer ließ sich in der mündlichen Verhandlung die Inhalte einiger Facebook-Posts aus der burmesischen Sprache übersetzen und konnte sich aufgrund der informatorischen Befragung einen eigenen Eindruck von der Ernsthaftigkeit der Kritik verschaffen, die der Kläger aus innerer Überzeugung übt.

Vor dem Hintergrund der der Kammer verfügbaren Erkenntnismittel ist zwar nicht gesichert bekannt, ob und inwieweit staatliche myanmarische Stellen Demonstrationen in Deutschland gegen die Militärregierung oder Veröffentlichungen von regimekritischen Ansichten über das Internet beobachten. Es ist aber sicher davon auszugehen, dass staatliche myanmarische Stellen zumindest an der Identifizierung der Teilnehmer von Demonstrationen gegen die Militärjunta ein Interesse haben (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Gelsenkirchen vom 17. August 2021).

Gleiches durfte auf die Identifizierung von Urhebern regimekritischer Äußerungen über das Internet zutreffen. Eine Differenzierung insoweit zwischen Demonstrationen in Präsenz und in den digitalen Medien dürfte fur den myanmarischen Staatsapparat unsachgemäß und aus dortiger Sicht nicht "zielführend" sein.

Es ist überdies nicht auszuschließen, dass Verfolgung von Personen nach ihrer Rückkehr nach Myanmar erfolgt, die - anders als der Kläger - nach dem Militärputsch ausgereist sind und anschließend einen Asylantrag gestellt haben, in dem sie sich auf den Militärputsch beziehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Gelsenkirchen vom 17. August 2021).

Bei einer Rückführung ist zudem anzunehmen, dass den myanmarischen Behörden die Identitäten der Rückzuführenden bekannt gegeben werden. Somit ist diesen bereits vorab eine Überprüfung möglich, bei der die exilpolitische Betätigung aufgrund der sozialen Medien im Internet unschwer festzustellen ist. Auf eine wie auch immer geartete Bestechung von Kontrollpersonal kann der Kläger nicht verwiesen werden. Rückkehrer werden in der Regel direkt am Flughafen von myanmarischen Sicherheitskräften empfangen und verhört. Es besteht dabei die akute Gefahr von Folter, Verurteilung in einem nicht rechtsstaatlichen Verfahren und anschließender langjähriger Inhaftierung. In diesem Zusammenhang ist auch davon auszugehen, dass myanmarische Behörden von der Asylantragstellung Kenntnis erlangen (vgl. VG Leipzig, Urteil vom 16. Februar 2022 - 8 K 1429/20.A -, n.v, UA Seite 11; VG Augsburg, Urteil vom 23. September 2011 - Au 6 K 11.30042 - Juris, Rdn. 23 m.w.N.).

Nach der Erkenntnismittellage zum Vorgehen im Land ist es beachtlich wahrscheinlich, dass auch niederschwellige exilpolitische Tätigkeiten - wie die des Klägers - zu staatlichen Repressionen fuhren. Insbesondere ist die Kammer der Überzeugung, dass das derzeitige myanmarische Regime nicht zu einer relativierenden Bewertung exilpolitischer Tätigkeiten im Rahmen einer asyltaktisch, beispielsweise wirtschaftlich, motivierten Ausreise in der Lage bzw. willens ist. Vielmehr zeigen die Erkenntnisse ein äußerst brutales und rigides Vorgehen gegen regimekritische Äußerungen, die nicht zuletzt wie von dem Kläger vorgetragen strafbar sind. In Myanmar herrscht nach dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 erneut offen ein sehr repressives System, das im Wesentlichen seit 1962 durch das Militär bestimmt wurde. Schon eine friedliche Meinungsäußerung kann zu Freiheitsstrafen führen. Es gibt keine unabhängige Justiz. Die myanmarischen Behörden unterhalten einen Staatssicherheitsdienst, der mutmaßliche regimekritische Aktivitäten unter Zuhilfenahme eines personalintensiven Überwachungsapparates und des Einsatzes moderner technischer Mittel beobachtet (vgl. VG Leipzig, Urteil vom 16. Februar 2022 - 8 K 1429/20.A -, n.v., UA Seite 12; zur Situation vor 2012 VG Ansbach, Urteil vom 23. Januar 2013 - AN 9 K 11.30458 - abrufbar unter www.asyl.net/rsdb/m20702; VG München, Beschluss vom 15. März 2021 - M 7 S7 21.30273 -, juris, Rdn. 24).

Es besteht bei der Rückkehrerbefragung die akute Gefahr von Folter, Verurteilung in einem nicht rechtsstaatlichen Verfahren und anschließender langjähriger Inhaftierung. Angesichts der durch ein systematisches, brutales Vorgehen auch gegen vermeintliche Oppositionelle gekennzeichneten Situation in Myanmar ist davon auszugehen, dass bekannte Fälle von Rückkehrern keine bloßen Einzelfälle sind, sondern die generelle Praxis des Regimes Myanmars im Umgang mit zurückkehrenden Asylsuchenden widerspiegelt (vgl. VG Leipzig, Urteil vom 16. Februar 2022 - 8 K 1429/20.A -, n.v., UA Seite 12).

Nach der Machtübernahme des Militärs durch den Putsch am 1. Februar 2021 folgten insbesondere ab September 2021 Proteste, die zahlreiche zivile Verletzte und Tote forderten. Das Militär geht äußerst brutal gegenüber abweichenden Meinungen vor. Es wird von mehr als 535 Toten seit dem Putsch bis zum 2. April 2021 ausgegangen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Myanmar, vom 2. April 2021, Seite 6).

Bis Ende September 2021 seien über 1.100 Zivilisten getötet worden (Bundesamt, Briefing Notes vom 27. September 2021), bis zum 14. Januar 2022 1.469, über 11.500 Personen seien aus politischen Gründen festgenommen worden (Bundesamt, Briefing Notes vom 17. Januar 2022). Es ist nicht ersichtlich, dass das Regime mit Zurückkehrenden, bei denen eine exilpolitische Betätigung bekannt ist, schonender umgehen sollte. [...]