VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 23.02.2022 - 12 B 6475/21 - asyl.net: M30510
https://www.asyl.net/rsdb/m30510
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Litauen:

"Es liegen ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Litauen seit dem Sommer 2021 systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmensch­lichen oder entwürdigenden Behandlung begründen könnten."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Litauen, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Aufnahmebedingungen, Push-Backs,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2014/EU Art. 3 Abs. 2, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

7 Hier ist zwar davon auszugehen, dass nach den Regelungen der Dublin III-VO originär die Republik Litauen für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig ist. Dies ergibt sich entweder aus Art. 3 Abs. 2 UA 1, Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO, weil der Antragsteller – was er bestreitet – vor seiner Einreise ins Bundesgebiet bereits in Litauen einen Asylantrag gestellt hatte und Litauen der Wiederaufnahme zugestimmt hat, oder aus Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO, weil der Antragsteller von Belarus aus illegal nach Litauen eingereist ist.

8 Es spricht jedoch einiges dafür, dass die Antragsgegnerin gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO die Zuständigkeitsprüfung dennoch hätte fortsetzen müssen, um einen anderen zuständigen Mitgliedsstaat zu bestimmen. Danach setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta (GRC) mit sich bringen. [...]

9 Nach diesen Maßgaben liegen ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Litauen seit dem vergangenen Sommer systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung begründen könnten. Als Reaktion auf den von Belarus provozierten massiven Anstieg illegaler Grenzübertritte von Migranten aus Drittstaaten hat Litauen im Juli und August 2021 sein Asylsystem verschärft. Daraufhin hat die Menschenrechtskommissarin des Europarates bereits am 10.08.2021 in einem Brief an die litauische Premierministerin ihre Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, dass durch die Gesetzesänderung maßgebliche Verfahrensgarantien abgeschafft würden, dass es in der Praxis zu Push-Back-Aktionen komme und dass die Unterbringung der neu eingetroffenen Migranten und Asylbewerber das Risiko einer de-facto-Inhaftierung berge, und appelliert, den Verpflichtungen Litauens als Unterzeichnerstaat der EMRK nachzukommen (Council of Europe, The Commissioner vor Human Rights, CommHR/DM/sf 030-2021). Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hat in einer Stellungnahme zu den Asylrechtsänderungen vom 27.09.2021 neben verschiedene anderen Aspekten (u.a. Kritik an Rechtsschutzeinschränkungen und Refoulement) herausgearbeitet, dass es für Asylbewerber unter den aktuellen rechtlichen Bedingungen wahrscheinlich ist, während der gesamten Verfahrensdauer ohne formale Haftanordnung in geschlossenen Einrichtungen gehalten zu werden (UNHCR observations on draft Amendments to the Law of the Republic of Lithuania on Legal Status of Aliens (No 21-29207), S. 5). In einer Presserklärung vom 11.10.2021 hat der UNHCR mitgeteilt, dass die Mehrheit der Asylbewerber einschließlich vulnerabler Gruppen weiterhin in geschlossenen und stark überfüllten Einrichtungen ohne angemessenen Zugang zu grundlegender Versorgung untergebracht sei. Für einige sei das seit über drei Monaten der Fall und habe ernsthafte Auswirkungen auf ihr Wohlbefinden. Mit den kommenden Winterbedingungen werde sich die Situation weiter verschärfen (UNHCR, Acknowledging the extraordinary situation in Lithuania, UNHCR raises concerns about legislative response and accommodation conditions, Press statement form UNHCR’s Representation für the Nordic an Baltic Countrys on situation in Lithuania). Am 21.12.2021 hat auch der UN-Ausschuss gegen Folter in seinem vierten periodischen Bericht zu Litauen die aktuelle Entwicklung kritisiert und Litauen zu Gegenmaßnahmen aufgefordert. Er geht ebenfalls davon aus, dass Asylbewerber sich ohne Zugang zu Rechtsschutz in anhaltender de facto-Haft befinden und zeigt sich besorgt angesichts von Berichten über Überfüllung, Mangel an Heizung, warmem Wasser und Trinkwasser, minderwertige Nahrung, eingeschränkten Zugang zu medizinischem Service und Mangel an Privatsphäre, Sanitäreinrichtungen und Hygiene in Asylbewerberunterkünften (United Nations, Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, Committee against Torture, Concluding observations on the fourth periodic report of Lithuania, CAT/D/LTU/CO/4, S. 3 f). Der Kammer liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass Asylbewerber, die im Rahmen von Verfahren nach der Dublin III-VO nach Litauen zurückgeführt werden, anders untergebracht und versorgt werden. Leider hat die Antragsgegnerin auf wiederholte Nachfragen des Gerichts zu ihren Erkenntnissen hinsichtlich der Unterbringung von Asylbewerbern lediglich auf ihren Bescheid vom 28.10.2021 verwiesen, der jedoch keine Informationen über die Situation seit Sommer 2021 enthält, sondern nur referiert, es gebe insgesamt 206 Unterbringungsplätze für Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge. Dass diese Kapazität angesichts der über 4000 illegalen Migranten im Jahr 2021 nicht ausreicht, liegt auf der Hand. Abschließend ergibt sich auch aus dem Vorschlag der Europäischen Kommission für einen Beschluss des Rates über vorläufige Sofortmaßnahmen zugunsten von Lettland, Litauen und Polen vom 01.12.2021 (COM(2021) 752 final, 2021/0401 (CNS)) bereits deshalb keine veränderte Betrachtungsweise, weil dieser Beschluss bislang vom Rat nicht gefasst worden ist.

10 Demnach bestehen im Hauptsacheverfahren mindestens offene Erfolgsaussichten für die Klage gegen die Abschiebungsanordnung. Angesichts der Schwere der dem Antragsteller möglicherweise drohenden Rechtsbeeinträchtigungen, die nicht oder nur schwer rückgängig zu machen wären, überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse (im Ergebnis ebenso: VG Braunschweig, Beschl. v. 22.12.2021 – 6 B 507/21 – V.n.b., Abdruck S. 6 ff.; VG Düsseldorf, Beschl. v. 22.12.2021 – 12 L 2301/21.A -, juris Rn. 41 ff.; die unveröffentlichten ablehnenden Beschlüsse des VG Oldenburg vom 27.10.2021 - 11 B 3168/21 - und vom 05.11.2021 - 11 B 3367/21 - und des VG Osnabrück vom 22.11.2021 - 5 B 108/21 - und vom 31.01.2022 - 5 B 10/22 - setzen sich ebenso wie die Antragsgegnerin nicht mit den aktuellen Erkenntnismitteln auseinander). [...]