OVG Berlin-Brandenburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.10.2021 - 6 S 31/21 - asyl.net: M30508
https://www.asyl.net/rsdb/m30508
Leitsatz:

Keine Erteilung eines Visums zum Kindernachzug bei offener Beweislage:

1. Für die Erteilung eines Visums im einstweiligen Rechtsschutz ist es notwendig, dass die Erteilungsvoraussetzungen mit hoher Wahrscheinlichkeit vorliegen. Dies ist nicht der Fall, wenn das Vorliegen der Voraussetzungen von dem Gericht nur als möglich angesehen wird, weil es die Beweislage als offen bewertet.

2. Eine Zeugenaussage reicht zum Beweis der Minderjährigkeit der nachzugswilligen Kinder nur dann aus, wenn sie in Zusammenschau mit allen weiteren Beweismitteln die Zweifel am Vorliegen der Erteilungsvoraussetzungen ausräumen kann. Ist dies nicht der Fall, ist die Einholung eines Altersbestimmungsgutachten trotz der Machtergreifung der Taliban zumutbar und notwendig, um die Überzeugungsgewissheit des Gerichts herzustellen.

(Leitsätze der Redaktion; Aufhebung der Entscheidung des VG Berlin, Beschluss vom 13.09.2021 - 10 L 298/21 V (Asylmagazin 3/2022, S. 102) - asyl.net: M30019)

Schlagwörter: Afghanistan, Kindernachzug, Altersfeststellung, Altersbestimmungsgutachten, einstweilige Anordnung, minderjährig,
Normen: AufenthG § 32, VwGo § 123, VwGO § 146,
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat im Urteil ausgeführt, nach der zweiten mündlichen Verhandlung habe das Gericht den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung vertagt. Es habe die ältere Schwester der Antragsteller, die deren Altersangaben bei ihrer Vernehmung bestätigt habe, für eine glaubwürdige Zeugin gehalten. Deren Angaben genügten allerdings nicht, um die von der Antragsgegnerin dargelegten Zweifel an den Geburtsdaten der Antragsteller vollständig zu entkräften. Von dieser (plausiblen) Einschätzung ist das Verwaltungsgericht sodann abgerückt, ohne dies nachvollziehbar zu erläutern. Insoweit hat es ausgeführt: Hintergrund der (ursprünglichen) Einschätzung sei der Umstand gewesen, dass das Gericht sich nicht allein auf die Aussage der Schwester der Antragsteller habe stützen wollen, solange andere objektive Beweismittel wie ein Altersbestimmungsgutachten zur Überprüfung der Angaben zur Verfügung gestanden hätten, nachdem diese Möglichkeit mit der Machtübernahme der Taliban nicht mehr bestünde, könne und müsse sich das Gericht für seine Beweiswürdigung allein auf die Zeugenaussagen stützen.

Diese Erklärung trägt den Sinneswandel nicht, denn damit sind die trotz der zugunsten der Antragsteller sprechenden Angaben der vom Verwaltungsgericht für glaubwürdig gehaltenen Zeugin bestehenden Zweifel durch die weiteren, von der Antragsgegnerin im Einzelnen angeführten Umstände nicht ausgeräumt. Die im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zugrunde gelegte Annahme, es bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache, ist damit in Frage gestellt.

Ungeachtet dessen ist das Verwaltungsgericht selbst im Urteil vom 8. September 2021 bei der Würdigung der Zeugenaussage der Schwester der Antragsteller sowie der schriftlichen Angaben des Vertrauensanwalts der Antragsgegnerin in Afghanistan davon ausgegangen, dass die Beweislage insoweit "offen" sei, das Gericht aber über keine Mittel zur weiteren Aufklärung vor Ort verfüge. Auch bei angenommener offener Beweislage lässt sich die die erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache nicht bejahen. [...]