Aussetzung der Abschiebung wegen Recht auf Privatleben:
1. Straffreiheit kann aufgrund der besonderen Schwierigkeiten vieler Jugendlicher der zweiten Einwanderungsgeneration eine Integrationsleistung darstellen.
2. Das von Art. 8 Abs. 1 EMRK umfasste private Interesse des Antragstellers, sein Leben in Deutschland weiterzuführen, ist dadurch begründet, dass er sein gesamtes Leben in Deutschland verbracht hat, Berührungspunkte zum Heimatstaat seiner Eltern nach Aktenlage nicht erkennbar sind und seine Angehörigen in Deutschland leben.
3. Es erscheint fraglich, ob eine Abschiebung in den Herkunftsstaat der Eltern auf Grundlage einer im Kleinkindalter getroffenen, etwa zwanzig Jahre alten Rückkehrentscheidung betrieben werden kann, ohne erneut eine Rückkehrentscheidung unter Berücksichtigung des Art. 8 EMRK zu treffen und dem nunmehr volljährigen Betroffenen auch die (gerichtliche) Überprüfung dieser Entscheidung zu ermöglichen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist angesichts der nach Aktenlage gegebenen Sach- und Rechtslage, die näher aufzuklären ggf. dem Klageverfahren vorbehalten bleiben muss, auch ein Anordnungsanspruch des Antragstellers gegeben, denn danach dürften die durch Art. 8 EMRK geschützten privaten Interessen des Antragstellers, in Deutschland zu bleiben, die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung überwiegen, so dass die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung unangemessen wäre. Jedenfalls führt eine im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes angezeigte Folgenabwägung bei ungewissem Verfahrensausgang zu diesem Ergebnis, denn eine sofortige Aufenthaltsbeendigung würde den seit fast 22 Jahren in Deutschland lebenden Antragsteller und ihm nahestehende Personen ungleich härter treffen, als eine (weitere) antragsgemäß befristete Zurückstellung des Abschiebungsinteresses. [...]
Der Begriff "Familienleben" i.S.d. Art. 8 EMRK verlangt nicht unbedingt eine vorausgegangene Eheschließung, sondern bezieht sich auch auf de facto-Familienbindungen, in denen die Partner in einer außerehelichen Lebensgemeinschaft stehen (Weite, Aufenthaltsgesetz, § 25 AufenthG Rn. 299 unter Hinweis auf EGMR, U. v. 27.10.1994, A-297-C). Zudem kommen unabhängig von ihrer Aufenthaltsdauer in dem Land, aus dem sie ausgewiesen bzw. abgeschoben werden sollen, nicht alle niedergelassenen Zuwanderer dort in den Genuss eines "Familienlebens" im Sinne des Art. 8. Da Art. 8 allerdings auch das Recht schützt, Beziehungen zu anderen Menschen und zur Außenwelt einzugehen und zu entwickeln, und bisweilen Aspekte der sozialen Identität einer Person betreffen kann, ist anzuerkennen werden, dass die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen niedergelassenen Zuwanderern und der Gemeinschaft, in der sie leben, einen Teil des Begriffs "Privatleben" im Sinne des Art. 8 darstellt. Unabhängig davon, ob ein "Familienleben" besteht, stellt die Ausweisung bzw. Abschiebung eines niedergelassenen Zuwanderers daher einen Eingriff in dessen Recht auf Achtung seines Privatlebens dar. [...]
Der gegenwärtig 21-jährige Antragsteller hat als sog. "Ausländer der zweiten Generation" sein gesamtes Leben in Deutschland verbracht und seine Sozialisation ist durch Kindheit und Jugendzeit hinweg stets in der deutschen Gesellschaft erfolgt. Seine insgesamt wenig geglückte schulische Ausbildung war - soweit in den Verwaltungsvorgängen für die ersten Schuljahre dokumentiert - von überdurchschnittlich vielen, auch unentschuldigten Fehlzeiten und unterdurchschnittlichen Leistungen geprägt. [...]
Insoweit lässt sich feststellen, dass der Antragsteller seine kindliche/jugendliche und schulische Sozialisation und Prägung ausschließlich in Deutschland erfahren hat, dabei aber keine Leistungen gezeigt hat, die besonders hervorragende Integrationsleistungen annehmen ließen. Damit fügt sich der Antragsteller in eine wachsende Gruppe von Jugendlichen ein, denen es nicht gelingt, im Schulsystem Deutschlands erfolgreich Fuß zu fassen und erfolgreich eine Ausbildung zu absolvieren. Allgemein bekannt ist, dass insbesondere Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund - wie der Antragsteller als Ausländer der zweiten Generation - besondere, insbesondere sprachliche Probleme häufig bei unzureichender Unterstützung im Elternhaus zu bewältigen haben, weshalb sie insbesondere in der Pubertät in besonderer Weise mit Schwierigkeiten konfrontiert werden, die zur Folge haben, dass der prozentuale Anteil derjenigen, die bei Beendigung der Schulpflicht ohne Bildungsabschluss sind, besonders hoch ist. Dabei ist bezüglich des Antragstellers völlig offen und wohl auch nicht (mehr) aufklärbar, worauf im Einzelnen das Scheitern gerade seiner Ausbildung beruht hat.
Die schicksalhafte Folge des Scheiterns der Ausbildung ist für die Betroffenen, dass sie als ungelernte Arbeitskräfte regelmäßig nur im Niedriglohnsektor als anzulernende Hilfskräfte Arbeit finden können und sich deshalb bereits in jungen Jahren ohne erfolgversprechende Perspektive auf nachhaltig geringfügige Einkommens- und Lebensverhältnisse einrichten müssen, weshalb auch angesichts der Lockungen einer industriellen Konsumgesellschaft regelmäßig von Angehörigen dieser gesellschaftlichen Gruppe begangene Eigentums- und Vermögensdelikte oder auch Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz zur Geldbeschaffung zu vergegenwärtigen sind. Demgegenüber ist dem Antragsteller nach Aktenlage ein Abdriften in ein kriminelles Milieu nicht vorzuwerfen. Vielmehr ist er - wie er auch geltend macht - weder in seiner Jugendzeit noch später strafrechtlich in Erscheinung getreten, sondern hat sich mit seinen Lebensverhältnissen arrangiert. Darin lässt sich eine Integrationsleistung des Antragstellers erkennen, die in Anbetracht seiner Lebenssituation zu seinen Gunsten festzustellen ist, ohne dass dies dem steten und richtigen Argument der Ausländerbehörden widerspräche, dass die Einhaltung strafrechtlicher Bestimmungen ein selbstverständliches Minimum der Verhaltenserwartung sei. [...]
Im vorliegenden Verfahren - erstmals, so der Antragsgegner - detailliert geltend und durch eidesstattliche Versicherung seiner Lebensgefährtin glaubhaft gemacht, wird vorgebracht, dass der Antragsteller wahrscheinlich in einer ehe- und familienähnlichen Sozialgemeinschaft mit dieser Lebensgefährtin und deren Tochter lebt, die mit einer gemeinsamen - im Widerspruch zur Wohnsitzverpflichtung des Antragstellers stehenden - Wohnsitznahme am Ort seiner neuen Beschäftigung in Bremerhaven als dauerhafte familiäre Lebensgemeinschaft, in deren Rahmen dem Antragsteller die sozial gegründete Vaterschaft in Beziehung zur Tochter der Lebensgefährtin zuerkannt wird, fortgesetzt werden soll. Diese ehe- und familienähnlichen sozialen Beziehungen gewinnen durch die deutsche Staatsangehörigkeit der Lebensgefährtin und deren Tochter an Gewicht. Dabei kann im vorliegenden Zusammenhang des Art. 8 EMRK dahingestellt bleiben, ob insbesondere eine soziale Vaterschaft des Antragstellers vom Schutzbereich der nationalen Verfassungsbestimmung des Art. 6 Grundgesetz umfasst ist (vgl. BVerfG, B. v. 29.1.2020, 1 BvR 2715/18, juris; BayVGH, B. v. 7.9.2021, 19 CS 21.1772, juris; VG Dresden, B. v. 17.1.2017, 3 L 1043/16, juris) und ob dessen Schutzwirkungen einer Abschiebung entgegenstehen. [...]
Die vom Schutzbereich des Art. 8 EMRK umfassten privaten Interessen des Antragstellers, sein Leben in Deutschland weiter zu führen, gründen insbesondere darin, dass der Antragsteller sein gesamtes Leben in Deutschland gelebt hat, Berührungspunkte zum Heimatstaat seiner Eltern nach Aktenlage nicht erkennbar sind und seine Angehörigen, insbesondere aber seine Lebensgefährtin und deren Tochter, die mit ihm in familienähnlicher Gemeinschaft gelebt haben mögen und in familiärer Gemeinschaft leben wollen und die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, in Deutschland leben und leben wollen.
Angesichts der für eine Verwurzelung des Antragstellers in der deutschen Gesellschaft sprechenden Umstände, die mangels widerstreitender Feststellungen zugleich eine Entwurzelung bezüglich des Herkunftsstaats der Eltern belegen, erschiene eine (zwangsweise) Aufenthaltsbeendigung bzw. Abschiebung des Antragstellers zum gegenwärtigen Zeitpunkt als unverhältnismäßig und unangemessen im Sinn vorstehender Rechtsprechung des EGMR. [...]
Unabhängig davon erscheint fraglich, ob der Antragsgegner die Rückführung des Antragstellers im Wege der Abschiebung in den Herkunftsstaat dessen Eltern auf der Grundlage einer gegenüber dem Antragsteller im Kleinkind alter getroffenen Rückkehrentscheidung aus dem Jahr 2002 betreiben kann, ohne erneut eine Rückkehrentscheidung unter Berücksichtigung der Schutzwirkungen des Art. 8 EMRK in Abwägung aller einzubeziehenden Umstände zu treffen und dem Antragsteller insoweit auch die Inanspruchnahme einer (gerichtlichen) Überprüfung seiner Entscheidung zu ermöglichen. Auch diese Frage kann dem Klageverfahren vorbehalten bleiben. [...]