ObLG Bayern

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Zitieren als:
ObLG Bayern, Urteil vom 25.02.2022 - 201 StRR 95/21 (Asylmagazin 5/2022, S. 178 ff.) - asyl.net: M30502
https://www.asyl.net/rsdb/m30502
Leitsatz:

Keine Strafbarkeit der Gewährung von Kirchenasyl:

1. Zwischen BAMF und der katholischen sowie der evangelischen Kirche ist ein sogenanntes Dossierverfahren zum Ablauf des Kirchenasyls vereinbart worden, welches eine nochmalige Einzelfallprüfung bei Dublin-Fällen beinhaltet. Bis zur Bekanntgabe des Ergebnisses der Überprüfung besteht ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung, so dass eine Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthalts ausscheidet.

2. Verbleibt die betroffene Person nach Bekanntgabe des negativen Ergebnisses im Kirchenasyl, liegt eine Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor. Die fortgesetzte Beherbergung und Verköstigung stellt jedoch keine strafrechtlich relevante Beihilfehandlung dar, weil es an einem pflichtwidrigen Unterlassen mangelt.

(Leitsätze der Redaktion)

Siehe auch:

Schlagwörter: Kirchenasyl, Dossier, Dossierverfahren, Unterlassen, Garant, Strafbarkeit, Beihilfe, Dublinverfahren, unerlaubter Aufenthalt, Garantenpflicht,
Normen: AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 2, StGB § 27,
Auszüge:

[...]

Zutreffend ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass während des Zeitraums, in dem das BAMF die im Rahmen der Vereinbarung zwischen dem BAMF und den Bevollmächtigten der evangelischen und katholischen Kirche vom 24.02.2015 zugesagte erneute Überprüfung des Asylfalles vornahm, ein rechtliches Abschiebehindernis vorlag. Dieses begründete so lange einen Duldungsanspruch des Asylsuchenden, bis das BAMF gegenüber den Verfahrensbeteiligten zum Ausdruck gebracht hat, dass die erneute Einzelfallprüfung negativ für den Asylsuchenden entschieden wurde (vgl. hierzu OLG München NJW 2018, 3041). [...]

3. Allerdings scheidet nach der überzeugenden Entscheidung des OLG München (a.a.O.), welcher sich der Senat anschließt, eine vorsätzlich begangene, rechtswidrige Haupttat des aufgenommenen Asylsuchenden deshalb aus, weil dieser einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung hatte. Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist eine Abschiebung auszusetzen, wenn sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.

a) Der Eintritt in ein "Kirchenasyl" allein begründet indes noch keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung (OLG München a.a.O. S. 3042; Gordzielik/Huber in: Huber/Mantel AufenthG/AsylG 3. Aufl. § 60a AufenthG Rn. 21 ) . [...]

b) Allerdings besteht ein zur rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung führendes Abschiebehindernis durch die Handlungsweise der Ausländerbehörden in Verbindung mit der Vereinbarung zwischen dem BAMF und den Bevollmächtigten der evangelischen und katholischen Kirche vom 24.02.2015 zur Kirchenasylgewährung in den sog. Dublin-Fällen, solange den Verfahrensbeteiligten das (negative) Ergebnis der Einzelfallprüfung durch das BAMF nicht bekannt gegeben wurde. Für den Zeitraum der nochmaligen Überprüfung des Einzelfalls bestand daher ein die Strafbarkeit des Asylsuchenden ausschließender Anspruch auf Erteilung eines Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG (OLG München a.a.O. S. 3042; zustimmend Buchholz StV 2019, 614f.; Kluth/Breidenbach a.a.O. Rn. 21 ). Dieser Duldungsanspruch entsteht regelmäßig, sobald die Beteiligten - nach außen erkennbar - in das mehrstufige Prüfungsverfahren entsprechend der Vereinbarung eintreten, hier also mit der Meldung des Angeklagten vom 25.08.2020 an das BAMF (so wohl auch OLG München a.a.O. S. 3044; ähnlich Preuß a.a.O. S. 788 und weitergehend Buchholz StraFo 2018, 506, 508).

(1) In der Verfahrensabsprache vom 24.02.2015 (niedergelegt in einem Vermerk, welcher - soweit ersichtlich - nicht öffentlich verfügbar ist, dessen wesentlichen Inhalt die Bundesregierung aber in diversen parlamentarischen Anfragen mitgeteilt hat, vgl. BT-Drs. 18/9894 S. 2; BT-Drs 19/3526 S. 3; BT-Drs. 19/2349 S. 1) ist festgehalten, dass "Kirchenasyl" nur als "ultima ratio" in absoluten Ausnahmefällen gewährt werden sollte. In diesen begründeten Ausnahmefällen findet im Rahmen des rechtlich Möglichen so frühzeitig wie möglich eine zwischen Kirchen und BAMF gesteuerte, lösungsorientierte Einzelfallprüfung über zentrale Ansprechpartner statt. Zu diesem Zweck sollen dem BAMF über die kirchlichen Ansprechpartner aussagekräftige Dossiers vorgelegt werden, aus denen sich eine begründete, humanitäre Härte im Einzelfall ergibt. Die Außenstellen des BAMF sind nach Eingang des Dossiers beim zuständigen Referat dazu angehalten, keine weiteren Schritte einzuleiten. Auf der Grundlage des Dossiers wird darüber entschieden, ob in diesen Fällen das Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung zu Gunsten des Betroffenen wegen besonderer Härten ausgeübt werden kann. Bis zur abschließenden Entscheidung wird von einer Dublin-Rücküberstellung in einen anderen Mitgliedstaat abgesehen (BT-Drs. 18/9894 S. 3). [...]

(3) Lagen - wie hier - die Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung vor, so schied eine Strafbarkeit des aufgenommenen Asylsuchenden wegen unerlaubten Aufenthalts unabhängig davon aus, dass tatsächlich eine Duldung nicht erteilt wurde (OLG München a.a.O. S. 3042). Die Strafgerichte sind von Verfassungs wegen gehalten, selbständig zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung (nach § 60a AufenthG) im Tatzeitraum gegeben waren (sog. hypothetischer Duldungsanspruch; vgl. hierzu BVerfG NStZ 2003, 488). Der Anspruch auf Duldung ist dem Fall  gleichzusetzen, dass die Abschiebung tatsächlich gemäß § 60a AufenthG ausgesetzt ist (Fahlbusch in: Hofmann Ausländerrecht 2. Aufl. § 95 AufenthG Rn. 47). Nach der gesetzgeberischen Konzeption des Aufenthaltsrechts muss ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen entweder unverzüglich abgeschoben oder nach § 60a Abs. 2 AufenthG geduldet werden. Für einen ungeregelten Aufenthalt des Ausländers lässt die Systematik des Gesetzes jedenfalls in den Fällen, in denen der Aufenthalt des Ausländers den Ausländerbehörden bekannt ist, keinen Raum (BVerfG NStZ 2003, 488; BGH StV 2005, 24 ). Nachdem hier die Voraussetzungen einer Duldung vorlagen, auf die der Asylsuchende auch einen Rechtsanspruch hatte (BVerwG NVwZ 2000, 938f.), scheidet eine Strafbarkeit des aufgenommenen Asylsuchenden wegen unerlaubten Aufenthalts und damit auch eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen Beihilfe hierzu aus. [...]

II.

Nach dem negativen Ausgang des Dossierverfahrens bzw. dem Ablauf der Dreitagesfrist hat sich zwar der von dem Angeklagten in das "Kirchenasyl" aufgenommene Asylsuchende des unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG schuldig gemacht. Durch die bloße Fortsetzung seiner Beherbergung und die weitere Gewährung von Verpflegung in den Räumlichkeiten der Abtei hat sich der Angeklagte jedoch schon deshalb nicht der Beihilfe zu dessen unerlaubten Aufenthalt schuldig gemacht, weil ihn keine rechtliche Verpflichtung traf, das Kirchenasyl aktiv zu beenden.

1. Nach Ablauf der Dreitagesfrist erlosch der Anspruch des Asylsuchenden auf Erteilung einer Duldung, nachdem zu diesem Zeitpunkt die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Dublin III-Verordnung noch nicht abgelaufen war. Insoweit ist der Anspruch auf Duldung dem Fall gleichzusetzen, dass die Abschiebung tatsächlich gemäß § 60a AufenthG ausgesetzt ist (Fahlbusch a.a.O.). Die Duldung lässt nach § 60a Abs. 3 AufenthG die Ausreisepflicht unberührt; sie kann nur eine zeitweise Aussetzung der Vollziehbarkeit der Abschiebung bewirken (OLG München a.a.O. S. 3043; MüKo/Gericke StGB 3. Aufl.§ 95 AufenthG Rn. 34). Nach dem Erlöschen der Duldung bzw. des Duldungsanspruchs hat die Abschiebung ohne erneute Abschiebungsandrohung und Fristsetzung zu erfolgen, § 60a Abs. 5 Satz 3 AufenthG (Gordzielik/Huber a.a.O. Rn. 67; Kluth/Breidenbach a.a.O. Rn. 48; Dollinger a.a.O. Rn. 19). Folglich bedurfte es vorliegend auch keiner (expliziten) Ankündigung der Abschiebung mehr, denn nach Bekanntgabe der Negativmitteilung des BAMF und Erlöschen des Duldungsanspruchs durfte der aufgenommene Asylsuchende nicht auf den Fortbestand der Aussetzung der Abschiebung vertrauen (Dollinger a.a.O. Rn. 63). Nachdem der Asylsuchende, bei dem eine freiwillige Ausreise mit Blick auf § 34a AsylG nicht in Betracht kam, die Räumlichkeiten der Abtei gleichwohl nach Ablauf der Dreitagesfrist nicht verlassen hat, um sich bei der Ausländerbehörde zum Vollzug der Abschiebung zu melden (vgl. hierzu MüKo/Gericke a.a.O. Rn. 35 a.E.), an deren rechtlicher und tatsächlicher Durchführbarkeit jedenfalls nach den Feststellungen des Amtsgerichts keine sonstigen Zweifel bestanden, machte er sich durch seinen weiteren Verbleib im "Kirchenasyl" nach Ablauf des 15.10.2020 wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG strafbar. [...]

a) Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils hat der Angeklagte die Beherbergung und Verpflegung des aufgenommenen Asylsuchenden nach negativem Abschluss des Dossierverfahrens fortgesetzt im Hinblick darauf, dass nach Ablauf der Überstellungsfrist die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig werden würde.

Allerdings war die Aufnahme des Asylsuchenden am 25.08.2020 und die Gewährung von Unterkunft und Verpflegung in der Abtei während der Durchführung des Dossierverfahrens nicht strafbar, so dass maßgeblich für die rechtliche Bewertung nur die bloße Fortführung der (zuvor rechtmäßigen) Beherbergung und Verköstigung sein kann. Mit der Aufnahme war eine Unterbringungssituation geschaffen worden, die nur durch aktives Tun wieder aufgelöst werden konnte. Insoweit steht der Vorwurf im Raum, dass der Angeklagte davon abgesehen hat, den aufgenommenen Asylsuchenden des Hauses zu verweisen und seinen Weggang aus der Abtei im Falle der Weigerung, die kirchlichen Räumlichkeiten freiwillig zu verlassen, zwangsweise etwa durch Räumung des zugewiesenen Zimmers durchzusetzen. Darüber hinaus stellte der Angeklagte dem aufgenommenen Asylsuchenden weiterhin Mahlzeiten zur Verfügung, für die dieser nichts bezahlen musste. Rechtlich enthält das Verhalten des Angeklagten damit einerseits, was die weitere Beherbergung anbelangt, Elemente des Unterlassens, da der Angeklagte nichts unternommen hat, um den aufgenommenen Asylsuchenden zum Verlassen der Abtei zu bewegen, und andererseits, was die weitere Verpflegung angeht, Elemente aktiven Tuns durch die weitere Bereitstellung von Mahlzeiten. [...]

(1) Daran gemessen liegt der Schwerpunkt in Fällen der bloßen Fortführung des "Kirchenasyls" durch weitere Beherbergung und Verpflegung im Anschluss an eine negative Einzelfallentscheidung im Dossierverfahren nach wertender Betrachtung nicht in einem aktiven Tun, sondern in einem Unterlassen. Die bloße Fortsetzung der (zuvor rechtmäßigen) Beherbergung zu einer Zeit, ab der der aufgenommene Asylsuchende sich des Dauerdelikts des unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG schuldig macht, weil ein Anspruch auf Duldung nicht mehr besteht, hätte der Angeklagte nur beenden können, indem er diesen zum Ver1assen des "Kirchenasyls" in den von ihm genutzten Räumlichkeiten der Abtei aufgefordert und das Verlassen ggf. zwangsweise durchgesetzt hätte. Insoweit handelt sich um ein Nichtbeenden der Gewährung des räumlichen Schutzes der Abtei, wo sich der Geflüchtete unbeschadet der in der Vereinbarung vom 24.02.2015 vorgesehenen Dreitagesfrist zum Verlassen des Kirchenasyls vor dem Zugriff der Behörden weiter sicher wissen konnte, weil diese regelmäßig auch nach negativer Einzelfallentscheidung des BAMF den Kirchenraum respektieren und weder durchsuchen noch den Geflüchteten festnehmen. Im rechtlichen Sinne bedeutet Unterlassen, dass der Betroffene ein von ihm erwartetes Verhalten nicht durchführt (Tag in: Dölling/Duttge/Rössner a.a.O. § 13 StGB Rn. 7). Danach lag bei dem Angeklagten durch die Nichtbeendigung der weiteren Beherbergung ein Unterlassen i.S.v. § 13 StGB vor. Davon ist ersichtlich auch die Tatrichterin ausgegangen, soweit sie für den Angeklagten nur zwei mögliche Verhaltensalternativen sah, nämlich die Beendigung des "Kirchenasyls· oder seine Aufrechterhaltung (UA S. 18). Bei der weiteren Gewährung der Verpflegung durch aktives Tun handelte es sich demgegenüber nach einer wertenden Gesamtbetrachtung von ihrem Bedeutungsgehalt her lediglich um eine nachrangige, die Unterlassung ergänzende Handlung. Nur der weitere Aufenthalt in der Abtei ermöglichte es dem Geflüchteten, unbehelligt von den Ausländerbehörden im Land zu bleiben, weil diese auf eine zwangsweise Durchsetzung der Überstellung verzichten, solange ein Ausreisepflichtiger sich in kirchlichen Räumlichkeiten im "Kirchenasyl" aufhält. Der Schwerpunkt des Verhaltens des Angeklagten, welcher den aufgenommenen Asylsuchenden gezielt in diesem geschützten Raum belassen hat, liegt in der Nichtbeendigung der Beherbergung und damit im Unterlassen. [...]

c) Kommt danach lediglich Beihilfe durch Unterlassen in Betracht, so fehlt es für eine Strafbarkeit des Angeklagten jedoch an einer Rechtspflicht zum Handeln (Garantenstellung). Zur Begründung der Strafbarkeit aus einem unechten Unterlassungsdelikt bedarf es eines rechtlich begründeten Einstehenmüssens für den Nichteintritt des Erfolges (BGHSt 30, 391, 393). Mithin muss ein besonderer Rechtsgrund nachgewiesen werden, wenn jemand ausnahmsweise dafür verantwortlich gemacht werden soll, dass er es unterlassen hat, zum Schutz fremder Rechtsgüter aktiv tätig zu werden. Die Erfolgsabwendungspflicht beruht auf dem Grundgedanken, dass eine bestimmte Person in besonderer Weise zum Schutz des gefährdeten Rechtsguts aufgerufen ist und dass sich alle übrigen Beteiligten auf das Eingreifen dieser Person verlassen und verlassen dürfen (BGH, Urt. v. 25.09.2014 - 4 StR 586/13 bei juris, BGHSt 59, 318, 323 m.w.N.; vgl. auch BGH NJW 2000, 3013, 3014). Eine solche Garantenpflicht des Angeklagten im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB, den Aufenthalt des aufgenommenen Asylbewerbers zu beenden, lässt sich jedoch aus den Feststellungen des Amtsgerichts nicht ableiten. Es bestand für den Angeklagten unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt eine rechtliche Verpflichtung, das Kirchenasyl zu beenden und den aufgenommenen Asylsuchen aus den Räumlichkeiten der Abtei zu entfernen.

(1) Insbesondere ergibt sich eine Garantenpflicht des Angeklagten nicht aus einem pflichtwidrigen gefährdenden Vorverhalten. Voraussetzung für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit kraft Ingerenz ist nach ständiger Rechtsprechung des BGH, dass ein pflichtwidriges Vorverhalten die nahe Gefahr des Eintritts des konkreten tatbestandsmäßigen Erfolges verursacht (BGH StV 2020, 373; BGH NStZ 1998, 83; BGHSt 43,381,396; BGHSt 37, 106, 115; BGHSt 34, 82, 84; RGSt 24,339; vgl. auch MüKo/Freund a.a.O. § 13 Rn. 118 ff.; Fischer a.a.O. § 13 Rn. 48; LK/Weigend StGB 13. Aufl. § 13 Rn. 42 ff.). Erforderlich ist dabei aber, dass das Vorverhalten nicht nur gefahrschaffend oder - erhöhend ist, sondern zugleich auch pflichtwidrig in dem Sinne, dass gegen eine Sorgfaltsnorm verstoßen wird, die gerade dem Schutz des betroffenen Rechtsguts dient (st. Rspr., vgl. BGH NJW 2019, 3092, 3094; BGH NStZ 2008, 276,277; Fischer a.a.O. § 13 Rn. 52). Die Ingerenz ist nach dem Schutzzweck der die Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens begründenden Norm begrenzt, weshalb es darauf ankommt, ob es sich noch um ein erlaubtes Risiko oder um ein nicht mehr erlaubtes Risiko handelt (Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Gaede a.a.O. § 13 Rn. 43 m.w.N.). Die Verpflichtung richtet sich an denjenigen, der sich vor der Tat pflichtwidrig verhalten und die Gefahr geschaffen hat. Nur der Garant trägt persönlich die Verantwortung für die Abwendung des tatbestandsmäßigen Erfolgs (BGH, Beschl. v. 24.03.2021 - 4 StR 416/20 bei juris}.

Nach diesen Maßstäben fehlt es an einem pflichtwidrigen Vorverhalten des Angeklagten aber schon deshalb, weil sich dieser bei der Gewährung des offenen "Kirchenasyls" strikt an die Vorgaben der Vereinbarung von 2015 gehalten hat. Durch die Aufnahme in das offene "Kirchenasyl" entsprechend der Vereinbarung hat der Angeklagte zwar die Möglichkeit geschaffen, dass der aufgenommene Asylsuchende nach negativem Ausgang des Dossierverfahrens in den kirchlichen Räumen verbleibt und dann ein unerlaubter Aufenthalt eintreten könnte. Ihm ging es aber bei der Aufnahme darum, eine nochmalige Einzelfallprüfung durch das BAMF zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts herbeizuführen. Ob diese Prüfung positiv oder negativ ausging, hatte der Angeklagte nicht in der Hand. Ebenso wenig wusste der Angeklagte bei der Aufnahme, ob der aufgenommene Asylsuchende nach negativem Ausgang des Dossierverfahrens im "Kirchenasyl" bleiben würde oder nicht. Damit liegt aber keine pflichtwidrige Gefahrerhöhung vor, die dem Angeklagten objektiv zurechenbar ist. Die Bejahung der Pflichtwidrigkeit und damit der Strafbarkeit des Angeklagten würde sonst davon abhängen, wie das BAMF entscheidet und wie sich der Asylsuchende hierzu verhält (vgl. auch BVerfG NStZ 2003, 488).

Dem steht nicht entgegen, dass die Vereinbarung vom 24.02.2015 nur eine rechtlich nicht verbindliche Verfahrensabsprache darstellt (BT-Drs. 19/2349 S. 1). Mit der Vereinbarung, die einen Anspruch des Asylsuchenden auf Duldung während der Durchführung des Dossierverfahrens und ein faktisch bestehendes Vollzugshindernis aufgrund einer politischen Entscheidung begründet, wurde ein geregeltes Verfahren für Härtefälle etabliert (BT-Drs. 19/2349 S. 2). Daher kann sich aus der Aufnahme eines Asylsuchenden in das offene "Kirchenasyl" unter strikter Einhaltung der Regularien der Vereinbarung keine Verpflichtung des Angeklagten zur Schadensabwendung für die durch § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG geschützten Rechtsgüter im Sinne des § 13 StGB ergeben, auf die sich der Staat verlassen darf. Wenn staatliche Stellen die Verfahrensweise des Dossierverfahrens mit den Kirchen vereinbaren und damit ein "Kirchenasyl" nicht nur tatenlos hinnehmen, sondern entsprechend der Vereinbarung mit den kirchlichen Entscheidungsträgern, die eine Abschiebung von Geflüchteten in Härtefällen zu verhindern suchen, kooperieren, so kann dem einzelnen kirchlichen Entscheidungsträger ein Vorgehen entsprechend der Vereinbarung nicht als pflichtwidrig entgegen gehalten werden. Dies wäre widersprüchlich (ähnlich zur Frage des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens des Asylsuchenden etwa LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. V. 27.04.2020 - L 8 AY 20/19 B ER bei juris). [...]

3. Nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1, 2 der Dublin III-Verordnung zum 12.11.2020 war der weitere Aufenthalt des aufgenommenen Asylsuchenden im "Kirchenasyl" legal. Ab diesem Zeitpunkt wurde Deutschland zum zuständigen Staat für die Prüfung des Asylantrags (vgl. Hruschka in: Huber/Mantel AufenthG/AsylG 3. Aufl. § 29 AsylG Rn. 42), wodurch wiederum ein Anspruch des Asylsuchenden auf Duldung entstanden ist. [...]