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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 10.03.2022 - C-519/20 Deutschland gg. K (Asylmagazin 10-11/2022, S. 390 f.) - asyl.net: M30495
https://www.asyl.net/rsdb/m30495
Leitsatz:

Zur Abschiebungshaft in Justizvollzugsanstalten:

1. Abschiebungshaft kann in speziellen Abteilungen einer Justizvollzugsanstalt als "spezieller Hafteinrichtung" gemäß Art. 16 Abs. 1 Rückf-RL (2008/115/EG) vollzogen werden, sofern diese einer Inhaftierung in Gefängnisumgebung so wenig wie möglich gleichkommt und die Rechte aus der GR-Charta, der EMRK und der Rückf-RL beachtet werden. Die speziellen Abteilungen müssen über eine eigene Ausstattung verfügen, von den übrigen Gebäuden der Einrichtung, in der Strafgefangene inhaftiert sind, getrennt sein und in speziellen Gebäuden untergebracht sein. Nicht entscheidend ist, ob diese spezielle Einrichtung der selben Behörde, d.h. der Anstaltsleitung der Justizvollzugsanstalt, untersteht. Die auch nur entsprechende Anwendung der Vorschriften über Strafvollstreckung auf die Abschiebehaft ist jedoch ein gewichtiges Indiz dafür, dass keine spezielle Hafteinrichtung gemäß Art. 16 Abs. 1 Rückf-RL vorliegt.

2. Ein Gericht, das Abschiebehaft anordnet, muss prüfen können, ob die Voraussetzungen gemäß Art. 18 Abs. 1 Rückf-RL vorliegen, wonach in einer Notlage ausnahmsweise von den Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 1 Rückf-RL abgewichen und Abschiebungshaft in gewöhnlichen Haftanstalten, d.h. nicht in speziellen Hafteinrichtung, vollzogen werden kann. Das Gericht ist an entsprechende Einschätzungen des Mitgliedstaats, wonach eine solche Notlage vorliegt, nicht gebunden und muss selber überprüfen, ob eine solche vorliegt. Art. 18 Rückf-RL ist eng auszulegen. Insbesondere setzt die Anwendung voraus, dass dem Mitgliedstaat nicht vorgehalten werden kann, dass keine ausreichenden Kapazitäten in speziellen Hafteinrichtungen gegeben sind. Auf Art. 18 Rückf-RL kann sich ein Mitgliedstaat deshalb nur dann berufen, wenn die schwere Belastung der speziellen Hafteinrichtungen Folge eines unerwarteten Anstiegs von in Haft zu nehmenden Drittstaatsangehörigen ist.

3. Sind die Voraussetzungen der Art. 18 Abs. 1 Rückf-RL nicht oder nicht mehr gegeben, darf ein Gericht nationale Rechtsvorschriften nicht anwenden, die Abschiebungshaft in gewöhnlichen Haftanstalten ermöglicht. Die Rückf-RL hat insofern Anwendungsvorrang.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: Tanja Podolski, "Das war wohl keine Notlage", lto.de vom 10.3.2022; Pro Asyl, Meldung vom 16.3.2022; Übersicht: Gesetzesänderung ab dem 1. Juli 2022: Abschiebungshaft und Strafvollzug sind wieder zu trennen vom 07.07.2022)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Justizvollzugsanstalt, Strafhaft, Rückführungsrichtlinie, spezielle Hafteinrichtung, Notlage, Vollzug der Abschiebungshaft,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 18, RL 2008/115/EG Art. 15 Abs. 1, GR-Charta Art. 6, EMRK Art. 5 Abs. 1, AufenthG § 62a Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

32   Mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die an erster Stelle und zusammen zu prüfen sind, möchted as vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass eine spezielle Abteilung einer Justizvollzugsanstalt, die zum einen, obwohl sie über einen eigenen Leiter verfügt, der Leitung der Anstalt untersteht und der Aufsicht des für Justizvollzugsanstalten zuständigen Ministeriums unterliegt, und in der zum anderen in speziellen Gebäuden, die über eine eigene Ausstattung verfügen und von den übrigen Gebäuden der Einrichtung, in denen Strafgefangene inhaftiert sind, getrennt sind, Drittstaatsangehörige in Abschiebehaft gehalten werden, als "spezielle Hafteinrichtung" im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann. [...]

55   Unter diesem Blickwinkel stellt der Umstand, dass die nationalen Regelungen über die Strafvollstreckung – und sei es auch nur entsprechend – auf die Unterbringung von Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft anwendbar sind, ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass eine solche Unterbringung nicht in einer "speziellen Hafteinrichtung" im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 stattfindet. [...]

57   Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass eine spezielle Abteilung einer Justizvollzugsanstalt, die zum einen, obwohl sie über einen eigenen Leiter verfügt, der Leitung der Anstalt untersteht und der Aufsicht des für Justizvollzugsanstalten zuständigen Ministeriums unterliegt, und in der zum anderen in speziellen Gebäuden, die über eine eigene Ausstattung verfügen und von den übrigen Gebäuden der Einrichtung, in denen Strafgefangene inhaftiert sind, getrennt sind, Drittstaatsangehörige in Abschiebehaft gehalten werden, als "spezielle Hafteinrichtung" im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, sofern die Bedingungen der Unterbringung dieser Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich verhindern, dass diese Unterbringung einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, und sie so ausgestaltet sind, dass sowohl die von der Charta garantierten Grundrechte als auch die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und Art. 17 der Richtlinie verankerten Rechte beachtet werden. [...]

58   Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht und insbesondere Art. 18 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das über die Anordnung der Inhaftnahme oder die Haftverlängerung eines Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu entscheiden hat, prüfen können muss, ob die Voraussetzungen eingehalten sind, unter die Art. 18 die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat stellt, diesen Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu inhaftieren. [...]

67   Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 18 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeiten über die Anordnung der Inhaftnahme oder der Haftverlängerung eines Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu entscheiden hat, prüfen können muss, ob die Voraussetzungen eingehalten sind, unter die Art. 18 die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat stellt, diesen Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu inhaftieren. [...]

68   Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die es erlauben, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige für ihre Abschiebung getrennt von Strafgefangenen vorübergehend in gewöhnlichen Haftanstalten unterzubringen, unangewendet lassen darf, wenn die Voraussetzungen, die Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie für die Vereinbarkeit solcher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht aufstellt, nicht oder nicht mehr erfüllt sind.

80   Der betreffende Mitgliedstaat muss daher nachweisen können, dass ihm zu dem Zeitpunkt, zu dem er die abweichenden Maßnahmen erlassen hat, vernünftigerweise nicht vorgehalten werden konnte, die schwere Belastung nicht besser vorhergesehen zu haben, die die Zahl an in Haft zu nehmenden Drittstaatsangehörigen zu diesem Zeitpunkt den speziellen Hafteinrichtungen in seinem Hoheitsgebiet aufbürdet, oder zumindest, dass ihm vernünftigerweise nicht vorgehalten werden kann, zu diesem Zeitpunkt keine ausreichenden strukturellen Maßnahmen getroffen zu haben, um eine solche Belastung der Kapazitäten der speziellen Hafteinrichtungen abzumildern.

81   Somit kann sich ein Mitgliedstaat insbesondere dann nicht auf Art. 18 der Richtlinie 2008/115 berufen, wenn die schwere Belastung seiner speziellen Hafteinrichtungen nicht die Folge eines unerwarteten Anstiegs der Zahl der in Haft zu nehmenden Drittstaatsangehörigen ist, sondern lediglich durch die Reduzierung der in speziellen Hafteinrichtungen verfügbaren Plätze oder durch mangelnde Voraussicht der nationalen Behörden verursacht wird. [...]

103   Nach alledem ist Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die es erlauben, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige für ihre Abschiebung getrennt von Strafgefangenen vorübergehend in gewöhnlichen Haftanstalten unterzubringen, unangewendet lassen muss, wenn die Voraussetzungen, die Art. 18 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie für die Vereinbarkeit solcher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht aufstellen, nicht oder nicht mehr erfüllt sind. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass eine spezielle Abteilung einer Justizvollzugsanstalt, die zum einen, obwohl sie über einen eigenen Leiter verfügt, der Leitung der Anstalt untersteht und der Aufsicht des für Justizvollzugsanstalten zuständigen Ministeriums unterliegt, und in der zum anderen in speziellen Gebäuden, die über eine eigene Ausstattung verfügen und von den übrigen Gebäuden der Einrichtung, in denen Strafgefangene inhaftiert sind, getrennt sind, Drittstaatsangehörige in Abschiebehaft gehalten werden, als "spezielle Hafteinrichtung" im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, sofern die Bedingungen der Unterbringung dieser Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich verhindern, dass diese Unterbringung einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, und sie so ausgestaltet sind, dass sowohl die von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Rechte als auch die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und Art. 17 der Richtlinie verankerten Rechte beachtet werden.

2. Art. 18 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeiten über die Anordnung der Inhaftnahme oder die Haftverlängerung eines Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu entscheiden hat, prüfen können muss, ob die Voraussetzungen eingehalten sind, unter die Art. 18 die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat stellt, diesen Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu inhaftieren.

3. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die es erlauben, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige für ihre Abschiebung getrennt von Strafgefangenen vorübergehend in gewöhnlichen Haftanstalten unterzubringen, unangewendet lassen muss, wenn die Voraussetzungen, die Art. 18 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie für die Vereinbarkeit solcher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht aufstellen, nicht oder nicht mehr erfüllt sind.