VG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 27.01.2022 - 2 E 4470/21 - asyl.net: M30494
https://www.asyl.net/rsdb/m30494
Leitsatz:

Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis per E-Mail löst Fiktionswirkung aus:

1. Ein Antrag auf Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels unterliegt keinen besonderen Formerfordernissen, so dass er grundsätzlich auch per E-Mail gestellt werden kann, wenn die Ausländerbehörde dafür den Zugang eröffnet hat.

2. Die Bitte um einen Termin zur Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ist als fristgerechter Verlängerungsantrag zu bewerten, so dass die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG eintritt. Dass der im Anschluss vergebene Termin zur persönlichen Vorsprache nach Ende der Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis liegt, steht dem Eintritt der Fiktionswirkung nicht entgegen. Andernfalls hinge es vom Datum des durch die Ausländerbehörde vergebenen Termins ab, ob die Fiktionswirkung eintritt oder nicht.

3. Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit infolge von Krankheit berühren nicht die aufgrund vorheriger Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aufenthaltstitel, Erlöschen, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Krankheit, verspätete Antragstellung, Verlängerungsantrag, E-Mail, Türkei, Assoziationsberechtigte, Termin, Vorsprache, Verlängerung, Fiktionswirkung,
Normen: AufenthG § 81 Abs. 4, ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 6 Abs. 2, AufenthG § 8 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Auf seinen Verlängerungsantrag vom 19. Januar 2018 hin erteilte die Antragsgegnerin ihm am 6. März 2018 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. S AufenthG, die bis zum 18. Januar 2021 gültig war. Mit dieser Aufenthaltserlaubnis wurde ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei bestätigt. [...]

Mit einer durch einen Vertreter geschriebenen E-Mail vom 7. Dezember 2020 bat der Antragsteller um einen Termin zur Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und erhielt einen Termin am 4. Februar 2021. An diesem Tag stellte der Antragsteller förmlich seinen Verlängerungsantrag und gab als Zweck des Aufenthaltes an, er wolle weiter in Deutschland arbeiten. Zu diesem Zeitpunkt bezog der Antragsteller ALG-II-Leistungen. Er reichte auch ein kardiologisches Attest des … vom … 2021 (Bl. 543 AuslA) ein. Dieser attestierte unter anderem einen NSTEMI (Anm. des Gerichts: kleineren Herzinfarkt) mit Thoraxschmerzen im … 2020, Gefäßverengungen, einen aktuellen Sehverlust von 40 % eine hypertensive Herzkrankheit mit diastolischer Dysfunktion, eine Fettstoffwechselstörung, einen insulinpflichtige Diabetes mellitus und Asthma bronchiale. Auf den weiteren Inhalt der ärztlichen Stellungnahme wird Bezug genommen. Die Antragsgegnerin  stellte dem Antragsteller eine Fiktionsbescheinigung aus. [...]

Dem Verlängerungsantrag des Antragstellers kam die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG zu; dies hat die Antragsgegnerin zu Recht bescheinigt. Nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG gilt der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als legal, wenn ein Ausländer vor Ablauf seines Aufenthaltstitels dessen Verlängerung oder die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels beantragt. Ein Antrag auf Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 81 Abs. 1 AufenthG unterliegt keinen besonderen Formerfordernissen, so dass er grundsätzlich auch per Email gestellt werden kann. Wenn die Ausländerbehörde - wie hier - dafür den Zugang eröffnet hat (vgl. § 3a Abs. 1 HmbVwVfG; ebenso OVG Magdeburg, Beschl. v. 10.1.2019, 2 M 21/19, Juris Rn. 20; VG Aachen, Beschl. v. 23.6.2021, 8 L 208/21, Juris Rn. 5).

Der Antragsteller hat die Verlängerung seiner bis zum 18. Januar 2021 gültigen Aufenthaltserlaubnis rechtzeitig beantragt. Bereits am 7. Dezember 2020 hätte der Antragsteller über seinen Vertreter per E-Mail um einen Termin für die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis gebeten (Bl. 505 AuslA) und damit klar den Wunsch geäußert, seinen Aufenthaltstitel verlängern zu wollen. Bereits dies ist als fristgerechter Verlängerungsantrag zu bewerten. Der Umstand, dass die Antragsgegnerin für die Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen die persönliche Vorsprache fordert und ihm am 11. Dezember 2020 erst einen Termin am 4. Februar 2021 gegeben hat, als sein Aufenthaltstitel schon abgelaufen war, steht dem Eintritt der Fiktionswirkung nicht entgegen. Dem Antragsteller können bei rechtzeitiger Anfrage nach einem Termin keine Nachteile dadurch entstehen, dass bei der Antragsgegnerin zu wenige Termine zur Verfügung stehen. Käme es allein auf den von der Antragsgegnerin vergebenen Termin an, hätte diese es in der Hand, die Fiktionswirkung eines fristgerechten Verlängerungsantrags eintreten zu lassen oder nicht. Dies ist vom Gesetzgeber nicht gewollt. [...]

Der Antragsteller hat ein Aufenthaltsrecht aus Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben. Danach hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedsstaat nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis. Es ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes geklärt, dass aus diesem Recht zugleich ein Aufenthaltsrecht folgt (EuGH, Urt. v. 20.9.1990, C-192/89, juris Rn. 29; VG Hamburg, Beschl. v. 27.4.2021, 13 E 1982/21, juris Rn. 10). Das von Art. 6 ARB 1/80 erfasste Arbeitsverhältnis muss die Ausübung einer tatsächlichen und echten wirtschaftlichen Tätigkeit zum Gegenstand haben. Auch Teilzeittätigkeiten oder geringfügige Beschäftigungen können den Anforderungen des Begriffs der Arbeitnehmereigenschaften genügen. Weder eine begrenzte Höhe der Vergütung oder der Umstand, dass der Betreffende die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts wie eine aus öffentlichen Mitteln des Wohnmitgliedstaats gezahlte finanzielle Unterstützung zu ergänzen sucht, kann irgendeine Auswirkung auf die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Unionsrechts haben (vgl. EuGH, Urt. v. 4.2.2010, C-14/09, juris Rn. 20 unter Verweis auf weitere Urteile des EuGH). Keine Freizügigkeit als Arbeitnehmer vermitteln hingegen völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeiten (VG Stuttgart, Beschl. v. 19.1.2021, 5 K 3369/20, juris Rn. 31 m.w.N.). [...]

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin hat der Antragsteller die Rechtsstellung eines verfestigten Aufenthalts nach Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 auch nicht durch die vom … 2020 bis zum … 2021 währende Arbeitslosigkeit verloren. Streitig ist bereits, ob der Verlust dieses einmal erlangten verfestigten Rechts durch eine vorübergehende Arbeitslosigkeit in Betracht kommt (vgl. EuGH, Urt. v. 7.7.2005, C-383/03, juris Rn. 15 ff.; OVG Hamburg, Beschl. v. 7.7.2021, 6 Bs 105/21, juris Rn. 22). Jedenfalls kann ein Erlöschen nicht angenommen werden, wenn die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 vorliegen. Danach berühren die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche. Diese Vorschrift soll verhindern, dass ein Arbeitnehmer nach langer Krankheit wieder "zurückgestuft" wird und seine Beschäftigungszeiten nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 neu erwerben muss (EuGH, Urt. v. 23.1.1997, C-171/95, juris Rn. 38, 39). Dementsprechend führen nach dem Erreichen der Verfestigung des Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 Zeiten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nicht zu einem Erlöschen der erworbenen Ansprüche (VGH Kassel, Urt. v. 10.3.2003, 12 UE 318/02, juris Rn. 41; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 23.5.1995, juris Rn. 41).

Im vorliegenden Fall war der Antragsteller über einen längeren Zeitraum unfreiwillig wegen Krankheit nicht erwerbstätig. [...]

Ist mithin das Bestehen eines Aufenthaltsrechts des Antragstellers mindestens offen oder überwiegend wahrscheinlich, gebietet es das Erfordernis der Gewährung effektiven Rechtsschutzes in diesem Fall, die aufschiebende Wirkung der Klage bis zum Abschluss einer Prüfung im Klageverfahren anzuordnen. [...]