BVerfG

Merkliste
Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 10.02.2022 - 2 BvR 2247/19 (Asylmagazin 7-8/2022, S. 269 ff.) - asyl.net: M30479
https://www.asyl.net/rsdb/m30479
Leitsatz:

Geplante Festnahme ohne vorherige richterliche Anordnung verfassungswidrig:

1. Eine Freiheitsentziehung erfordert grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung. Eine zunächst allein durch die Exekutive veranlasste Freiheitsentziehung (hier: § 62 Abs. 5 Nr. 2 AufenthG), über die eine richterliche Entscheidung erst nachträglich ergeht, stellt eine rechtfertigungsbedürftige Ausnahme dar.

2. Eine erst nachträgliche richterliche Entscheidung über eine Freiheitsentziehung ist nur dann zulässig, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte, verfassungsrechtlich zulässige Zweck andernfalls nicht erreichbar wäre. Für die Frage, ob die Freiheitsentziehung bei Abwarten einer richterlichen Entscheidung nicht erreicht werden könnte, ist der Zeitpunkt maßgeblich, zu dem die Ausländerbehörde eine Haftanordnung frühestmöglich hätte erwirken können. Entscheidend ist, ob der Zweck der Freiheitsentziehung gefährdet worden wäre, wenn die Ausländerbehörde zu diesem Zeitpunkt sogleich eine richterliche Entscheidung beantragt hätte und diese zeitnah ergangen wäre.

3. Unerheblich ist, ob eine geplante Festnahme aus Sicht der Ausländerbehörde zu diesem Zeitpunkt noch scheitern könnte. Es ist typischerweise unsicher, ob die Vollstreckung einer zuvor eingeholten Haftanordnung auch tatsächlich gelingt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Haftbeschluss, Ingewahrsamnahme, Festnahme, Gesetzlicher Richter, Abschiebung, vorläufige Ingewahrsamnahme, geplante Festnahme, geplante Ingewahrsamnahme,
Normen: GG Art. 104 Abs. 2 S. 1, GG Art. 104 Abs. 1 S. 1, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 62 Abs. 5 Nr. 3, AufenthG § 62 Abs. 5, FamFG § 427 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

23 2. Soweit sich der Beschwerdeführer gegen die Entscheidungen des Amtsgerichts vom 18. September 2019 und des Landgerichts vom 20. November 2019 wendet, ist die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung des grundrechtsgleichen Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG angezeigt (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind vom Bundesverfassungsgericht bereits entschieden und die Verfassungsbeschwerde ist insoweit offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG.

24 a) Für den schwersten Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes aus Art. 104 Abs. 1 GG den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>). Das dient der verstärkten Sicherung des Grund rechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Art. 104 Abs. 2 GG ist unmittelbar geltendes und anzuwendendes Recht (vgl. BVerfGE 10,302 <329>; 149,293 <332 f. Rn. 95>). Alle staatlichen Organe sind daher verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (vgl. BVerfGE 103,142 <151 f.>; 105,239 <248>; 139,245 <267 f. Rn. 64>; 149,293 <333 Rn. 96>).

25 Die Freiheitsentziehung erfordert grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung (vgl. nur BVerfGE 10, 302 <321 >; 22, 311 <317>; 105, 239 <248>), so dass die - zunächst - allein durch die Exekutive veranlasste Freiheitsentziehung eine rechtfertigungsbedürftige Ausnahme darstellt (vgl. Mehde, in; Maunz/Dürig, GG, Stand: Januar 2021, Art. 104 Rn. 76; vgl. auch Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 104 Rn. 43; Radtke, in: BeckOK GG, Art. 104 Rn. 20, Mai 2021). Eine nachträgliche richterliche Entscheidung ist nur dann zu lässig, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck andernfalls nicht erreichbar wäre (vgl. BVerfGE 22, 311 <317>; 105, 239 <248>; 149, 293 <334 Rn. 98>).

26 Ob der Zweck der Freiheitsentziehung bei Abwarten einer richterlichen Entscheidung nicht erreicht werden kann und daher die Freiheitsentziehung ausnahmsweise ohne vorherige gerichtliche Anordnung erfolgen darf, bestimmt sich danach, ab wann die Ausländerbehörde eine Haftanordnung frühestmöglich hätte erwirken können. Maßgeblich ist, ob bezogen auf diesen Zeitpunkt der Zweck der Freiheitsentziehung gefährdet worden wäre, wenn die Ausländerbehörde sogleich eine richterliche Entscheidung beantragt hätte und diese zeitnah ergangen wäre (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Mai 2009 - 2 BvR 475/09 -, Rn. 18; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Mai 2009 - 2 BvR 2367/07 -, Rn. 19). Umgekehrt wird der Richtervorbehalt nicht ausgelöst, wenn und solange unklar ist, ob die Abschiebungs- und Abschiebungshaftvoraussetzungen vorliegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Mai 2009 - 2 BvR 475/09 -, Rn. 19).

27 b) Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts vom 18. September 2019 und des Landgerichts vom 20. November 2019 nicht gerecht.

28 aa) Dem Beschwerdeführer ist die Freiheit entzogen worden, ohne dass die Freiheitsentziehung zuvor von einem Richter angeordnet worden ist. Zwar hatte die Ausländerbehörde die richterliche Anordnung der Freiheitsentziehung cirka zwei Stunden vor der Ingewahrsamnahme beantragt. Zu einer Entscheidung über die sen Antrag kam es vor der Ingewahrsamnahme aber nicht mehr.

29 bb) Die Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers ohne richterliche Anordnung war hier nicht ausnahmsweise zulässig. Nach Maßgabe des Fachrechts ist eine behördliche Ingewahrsamnahme nach § 62 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nur dann zulässig, wenn die richterliche Entscheidung über die Anordnung von Sicherungshaft nicht vorher eingeholt werden konnte. Dabei ist den norminternen Direktiven von Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG Rechnung zu tragen. Ob eine vorherige richterliche Entscheidung eingeholt werden konnte, ist daher danach zu bestimmen. ob dadurch der Zweck gefährdet worden wäre, dem die Freiheitsentziehung zu dienen bestimmt ist. Das war hier nicht der Fall.

30 (1) Die Ausländerbehörde beabsichtigte, den Beschwerdeführer in Sicherungshaft zu nehmen. Aus der gesetzlichen Regelung des § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ergibt sich, dass die Anordnung der Haft "zur Sicherung der Abschiebung" erfolgt. Die Sicherung der Abschiebung ist danach der Zweck, dessen Gefährdung es erlauben kann, von einer vorherigen richterlichen Entscheidung abzusehen.

31 (2) Weder das Amts- noch das Landgericht haben sich ausdrücklich mit der Frage befasst, ob dieser Zweck der Freiheitsentziehung durch eine vorherige richterliche Entscheidung gefährdet worden wäre. Das Amts- und das Landgericht stützen ihre ablehnenden Entscheidungen allerdings darauf, es sei "ungewiss" gewesen, ob die Überstellung des Beschwerdeführers aus der Schweiz nach Deutschland auch tatsächlich stattfinden würde. Diese Ausführungen sind zwar einem konkreten Tatbestandsmerkmal oder Obersatz nicht zugeordnet. Bei verständiger Würdigung gehen die Fachgerichte aber davon aus, es habe sich hier um eine ungeplante Festnahme oder jedenfalls um eine solche Situation gehandelt, die mit der ungeplanten Festnahme vergleichbar sei.

32 (3) Dass eine vorherige richterliche Haftanordnung in Fällen der ungeplanten Festnahme eines untergetauchten Betroffenen nicht erforderlich ist, ist fachrechtlich anerkannt (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 18. August 2009 - 3 W 129/09 -, juris, Rn. 8 f.; OLG Hamm, Beschluss vom 15. Dezember 2009 - I-15 Wx 333/09 -, juris, Rn. 4ff.; Bergmann/Putzar-Sattler, in: Huber/Mantel, AufenthG, 3. Aufl. 2021, § 62 Rn. 45; Drews, in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 428 Rn. 3; Göbel, in: Keidel, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 427 Rn. 12). Gegen diese Rechtsauffassung bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken, solange das Untertauchen des Betroffenen mit Unklarheiten hinsichtlich des Vorliegens der Abschiebungs- oder Abschiebungshaftvoraussetzungen, insbesondere der Möglichkeit einer zeitnahen Abschiebung, einhergeht. Die Situation einer ungeplanten Festnahme stellt sich unter dieser Voraussetzung als eine solche Situation dar, bei der die Einholung einer richterlichen Haftanordnung vor der Festnahme den Zweck der Maßnahme - die Sicherung der Abschiebung - gefährden würde: Erst in diesem und für diesen Moment verdichtet sich die Erkenntnislage für die zuständige Behörde dahingehend, dass das Vorliegen der Abschiebungs- und Abschiebungshaftvoraussetzungen feststeht. Gleichzeitig kann die Behörde des Betroffenen typischerweise nur in diesem Moment habhaft werden. Der Umstand allein, dass eine Festnahme ungeplant erfolgt, rechtfertigt die Ingewahrsamnahme verfassungsrechtlich jedoch noch nicht. Vielmehr bleibt maßgeblich, ob der Zweck der Freiheitsentziehung durch die Einholung einer richterlichen Entscheidung gefährdet worden wäre.

33 (4) Im vorliegenden Fall wäre der Zweck der Freiheitsentziehung durch eine vorherige richterliche Anordnung nicht gefährdet worden. Abzustellen ist dabei auf einen Zeitpunkt deutlich vor dem 24. Juli 2018 (unter (a)). Bezogen auf diesen Zeitpunkt ergeben sich für eine Zweckgefährdung keine Anhaltspunkte (unter (b)).

34 (a) Die Ausländerbehörde hätte eine Haftanordnung bereits deutlich vor dem 24. Juli 2018 erwirken können. Maßgeblich ist dabei die Situation, die sich bei einer frühzeitigen Stellung des Haftantrags ergeben hätte.

35 Die Erkenntnislage der Ausländerbehörde und ihre Festnahmeabsicht hatten sich hier bereits in der Zeit ab dem 11. Juli 2018 dahingehend verdichtet, dass der Beschwerdeführer nach der Überstellung festgenommen werden sollte. [...]

36 Die Erkenntnislage der Ausländerbehörde und ihre Festnahmeabsicht waren auch nicht deswegen mit rechtlich relevanten Zweifeln behaftet, weil die Überstellung noch hätte scheitern können. Wenn eine richterliche Haftanordnung vor der Ingewahrsamnahme eines Betroffenen ergeht, ist vielmehr typischenweise unsicher, ob die Vollstreckung der Haftanordnung gelingen wird. Dies ändert aber nichts daran, dass die Ausländerbehörde hier eine nach Zeit und Ort konkret bestimmte Festnahmeabsicht verfolgt hat, bei der die vorherige Einholung einer richterlichen Entscheidung möglich war.

37 (b) Es ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass eine vorherige richterliche Entscheidung über die Freiheitsentziehung deren Zweck gefährdet hätte, wenn der Haftantrag rechtzeitig gestellt worden und eine richterliche Haftanordnung ergangen wäre. Daher lagen die Voraussetzungen von § 62 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht vor. Hätte die Ausländerbehörde bereits vor dem 24. Juli 2018 die Sicherungshaft beantragt und hätte das Amtsgericht daraufhin eine entsprechende Entscheidung getroffen, hätte der Beschwerdeführer ebenso nach seiner Ankunft in Deutschland festgenommen werden können, wie dies hier - allerdings ohne richterliche Entscheidung - geschehen ist. Gegen eine Zweckgefährdung spricht auch, dass dem Beschwerdeführer die Entscheidung über die Haftanordnung nicht vorab hätte mitgeteilt werden müssen, wenn dies den Zweck des Verfahrens gefährdet hätte, § 431 Satz 1 in Verbindung mit § 308 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 FamFG.

38 cc) Dass rechtliche Hindernisse einer früheren Antragstellung entgegengestanden hätten, ist den fachgerichtlichen Entscheidungen nicht zu entnehmen. [...]