EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 03.03.2022 - C-349/20 - NB, AB gegen Vereinigtes Königreich - asyl.net: M30471
https://www.asyl.net/rsdb/m30471
Leitsatz:

„Ipso-facto“ Schutz für palästinensisches Kind mit Behinderung:

1. Gemäß Art. 12 Abs. 1 Bst. a Qualifikationsrichtlinie (alte Fassung 2004/83/EG) ist bei der Feststellung, ob kein Schutz oder Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) mehr gewährt wird, nicht nur die Sachlage zu dem Zeitpunkt maßgeblich, zu dem die Person das UNRWA-Einsatzgebiet verlassen hat, sondern auch der Zeitpunkt der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung.

2. Ist ein Mitgliedstaat der Ansicht, dass eine Person, die schon nachgewiesen hatte, dass sie gezwungen war, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen, nunmehr dorthin  zurückkehren und Schutz von UNRWA in Anspruch nehmen könne, obliegt dem Mitgliedstaat der entsprechende Nachweis.

3. Gemäß Art. 12 Abs. 1 Bst. a S. 2 Qualifikationsrichtlinie 2004 genügt der Nachweis, dass der Beistand des UNRWA tatsächlich aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird, also dass UNRWA keine Lebensverhältnisse gewährleistet, die seiner Aufgabe entsprechen (hier: Versorgung eines Kindes mit Behinderung entsprechend seiner Bedürfnisse). Es ist nicht erforderlich, dass UNRWA oder der Staat in dem UNRWA tätig ist, die Absicht hatten, der Person Schaden zuzufügen oder ihr den Beistand zu entziehen.

4. Im Rahmen der Beurteilung, ob der Schutz von UNRWA nicht länger gewährt wird, so dass eine Person „ipso facto“ die "Anerkennung als Flüchtling" gemäß Art. 12 Abs. 1 Bst. a S. 2 Qualifikationsrichtlinie 2004 beanspruchen kann, ist der Beistand von Akteuren der Zivilgesellschaft, wie etwa Nichtregierungsorganisationen, zu berücksichtigen, sofern das UNRWA mit diesen eine dauerhafte formelle Kooperationsbeziehung unterhält und von ihnen bei der Erfüllung seines Mandats unterstützt wird.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Libanon, Palästinenser, UNRWA, ipso facto-Flüchtling, Schwerbehinderung, Beurteilungszeitpunkt,
Normen: Richtlinie 2004/83/EG Art. 12 Abs. 1 Bst. a S. 2, AsylG § 3 Abs. 3 S. 1, AsylG § 3 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

[...]

1. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass bei der Feststellung, ob der Schutz oder Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) nicht länger gewährt wird, so dass eine Person ipso facto die "Anerkennung als Flüchtling" im Sinne dieser Bestimmung beanspruchen kann, im Rahmen einer individuellen Beurteilung die relevanten Umstände nicht nur zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Person das UNRWA-Einsatzgebiet verlassen hat, sondern auch zu dem Zeitpunkt zu berücksichtigen sind, zu dem die zuständigen Verwaltungsbehörden einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft prüfen oder die zuständigen Gerichte über den Rechtsbehelf gegen eine die Anerkennung als Flüchtling versagende Entscheidung entscheiden.

2. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83 ist im Fall einer Person, die nachweist, dass sie gezwungen war, das Einsatzgebiet des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) aus von ihr nicht zu kontrollierenden und von ihrem Willen unabhängigen Gründen zu verlassen, im Rahmen der Prüfung zum Zweck der Feststellung, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird, so dass diese Person ipso facto die "Anerkennung als Flüchtling" im Sinne dieser Bestimmung beanspruchen kann, dem Mitgliedstaat, falls er der Ansicht ist, dass diese Person nunmehr in der Lage sei, in dieses Gebiet zurückzukehren und dort diesen Schutz oder Beistand in Anspruch zu nehmen, der Nachweis dafür obliegt, dass dies der Fall ist.

3. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83 ist dahin auszulegen, dass für die Feststellung, ob der Schutz oder Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) im Sinne dieser Bestimmung nicht länger gewährt wird, so dass eine internationalen Schutz beantragende Person gezwungen war, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen, nicht nachgewiesen werden muss, dass das UNRWA oder der Staat, in dem es tätig ist, die Absicht hatte, dieser Person durch Tun oder Unterlassen Schaden zuzufügen oder ihr den Beistand zu entziehen. Für die Zwecke dieser Bestimmung genügt der Nachweis, dass der Beistand oder Schutz des UNRWA tatsächlich aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird, so dass das UNRWA aus objektiven oder mit der persönlichen Situation dieser Person zusammenhängenden Gründen nicht länger in der Lage ist, ihr die Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit seiner Aufgabe im Einklang stehen.

4. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83 in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt D des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten  Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ist dahin auszulegen, dass im Rahmen der Beurteilung der für die Prüfung erforderlichen Voraussetzungen, ob der Schutz oder Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) nicht länger gewährt wird, so dass eine Person ipso facto die "Anerkennung als Flüchtling" im Sinne dieser Bestimmung der Richtlinie 2004/83 beanspruchen kann, der Beistand zu berücksichtigen ist, der dieser Person von Akteuren der Zivilgesellschaft, wie etwa Nichtregierungsorganisationen, gewährt wird, sofern das UNRWA mit ihnen eine dauerhafte formelle Kooperationsbeziehung unterhält, in deren Rahmen es von ihnen bei der Erfüllung seines Mandats unterstützt wird.