OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 15.02.2022 - 2 A 46/21 - asyl.net: M30469
https://www.asyl.net/rsdb/m30469
Leitsatz:

Keine drohende Verletzung von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK für Anerkannte in Italien:

1. Gesunden und arbeitsfähigen Antragstellern droht in Italien keine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK.

2. Eine Aufhebung der Abschiebungsandrohung hat nicht wegen des Umstands zu erfolgen, dass im Bescheid entgegen § 31 Abs. 3 S. 1 AsylG keine Feststellung zum Bestehen von Abschiebungsverboten erfolgt ist.

(Leitsätze der Redaktion; entgegen OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A - asyl.net: M29879)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, ausländische Anerkennung, Unzulässigkeit,
Normen: AsylG § 31 Abs. 3 S. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

Ausgehend davon steht Art. 4 GRC (bzw. der inhaltsgleiche Art. 3 EMRK) der Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig nicht entgegen. Es ist nicht anzunehmen, dass er unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, und die seine Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt.

Es trifft schon nicht zu, dass die italienischen Behörden den elementaren Bedürfnissen anerkannter Flüchtlinge gleichgültig gegenüber stehen würden. Vielmehr hat der italienische Staat - auch mittels europäischer Finanzhilfen – inzwischen ein Aufnahmesystem für anerkannte Schutzberechtigte entwickelt, das für eine Übergangszeit die Versorgung der Bedürfnisse dieser Personengruppe an Wohnung, Nahrung und Hygiene sicherstellen soll und zusätzlich auf eine Integration in die Gesellschaft gerichtet ist. Der Kläger hat nach einer Rückkehr grundsätzlich für sechs Monate einen Anspruch auf Unterkunft und Versorgung in einer Einrichtung des SAI (Sistema accoglienza integrazioni), früher: SIPROIMI (Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e minori stranieri non accompagnati). [...]

Die für eine Übergangszeit möglicherweise schwierige Suche nach einer menschenwürdigen Unterkunft wird dem alleinstehenden und damit in der Wahl seines Aufenthaltsorts flexiblen Kläger voraussichtlich auf Dauer wesentlich dadurch erleichtert werden, dass er in Italien durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen kann. [...]

Der Senat ist daher der Auffassung, dass gesunde und arbeitsfähige Antragsteller wie der Kläger derzeit in Italien grundsätzlich weder im Zeitpunkt der Rücküberstellung noch während des Asylverfahrens und auch nicht nach Zuerkennung von internationalem Schutz unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen durch systemische Schwachstellen gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO oder sonstige Umstände dem "real risk" einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt werden. Der anderslautenden Ansicht des OVG Münster (Urteil vom 20.7.2021 - 11 A 1574/20.A -, juris), wonach ein in Italien als Schutzberechtigter anerkannter Kläger, der keine besonderen Vulnerabilitätsmerkmale aufweist, in Italien keine menschenwürdige Unterkunft finden und finanzieren könne und er sich nicht aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu finanzierenden Mittel mit den für ein Überleben notwendigen Gütern versorgen könne, ist nicht zu folgen. [...]

Eine Aufhebung der Abschiebungsandrohung hat nicht wegen des Umstands zu erfolgen, dass das Bundesamt entgegen § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG keine Feststellungen zu der Frage getroffen hat, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Es führt nicht zur Rechtswidrigkeit des Bescheids, wenn ein (ausdrücklicher) Ausspruch zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG fehlt oder eine Prüfung der nationalen Abschiebungsverbote nicht erfolgt ist. Der Ausländer kann zwar die Anfechtungsklage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung und die mit dieser verbundenen Abschiebungsandrohung hilfsweise mit einem entsprechenden Verpflichtungsantrag verbinden. Der Verpflichtungsantrag ist jedoch nicht Voraussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses für die Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsandrohung. Dann ist er aber auch nicht Voraussetzung für die gerichtliche Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen, die im Rahmen des Anfechtungsbegehrens gegen eine Abschiebungsandrohung nach deren gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen zu erfolgen hat. Das Tatsachengericht hat diese Prüfung - gegebenenfalls auch erstmals - selbst vorzunehmen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3.4.2017 - 1 C 9.16 -, und Urteil vom 25.7.2017 - 1 C 10.17, OVG des Saarlandes, Urteil vom 19.4.2018 - 2 A 741/17 -, und OVG Greifswald, Urteil vom 19.1.2022 - 4 LB 68/17 -, jeweils bei juris).  [...]