VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22.02.2022 - 1a K 2967/19.A - asyl.net: M30466
https://www.asyl.net/rsdb/m30466
Leitsatz:

Vulnerablen Personen droht bei Dublin-Überstellung in Italien weiterhin unmenschliche und erniedrigende Behandlung:

"Es ist trotz erfolgter Gesetzesänderung weiterhin davon auszugehen, dass vulnerablen Personen, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben, bei Rücküberstellung dorthin derzeit im Allgemeinen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht, solange die italienischen Behörden keine individuelle und konkrete Zusicherung abgegeben haben, nach der die jeweils betroffenen Personen Zugang zu einer ihrer Schutzbedürftigkeit angemessenen Unterkunft und darüber hinaus auch zu einer für die Dauer ihrer Vulnerabilität angemessenen Unterstützung erhalten werden."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Italien, besonders schutzbedürftig, Kleinkinder, Kinder, Kind, Dublinverfahren, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, systemische Mängel, Unterbringung, Obdachlosigkeit, Existenzgrundlage,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2 S. 1, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

d) Die Zuständigkeit Italiens ist aber entfallen, weil sie auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 der Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen ist. Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat – die Beklagte – die Prüfung der in Kapitel III der Verordnung vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat – hier Italien – zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechte-Charta (GR-Charta) oder Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mit sich bringen. Kann die Überstellung an den zuständigen Mitgliedsstaat oder an den Mitgliedsstaat, in  dem erstmalig ein Asylantrag gestellt worden ist, nicht erfolgen, ist der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedsstaat nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO zuständig. [...]

Zunächst spricht im vorliegenden Einzelfall Maßgebliches dafür, dass in Italien in den Fällen von vulnerablen Personen – hier in Bezug auf eine Familie mit Kleinkindern – (abstrakt gesehen) bereits systemische Schwachstellen i. S. d. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO bezogen auf die Gruppe der Vulnerablen bestehen und daher die Unzulässigkeitsentscheidung aufzuheben ist (vl. VG Düsseldorf, Urteil vom 16. April 2020 - 15 K 790/18.A -, nicht veröffentlicht, und Beschluss vom 4. Juli 2018 - 22 L 5076/17.A -, juris, Rn. 13 ff.).

Darüber hinaus bezieht sich zwar Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO seinem Wortlaut nach nur auf die Situation, in der sich die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta aus systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, in dem Mitgliedstaat ergibt, der nach dieser Verordnung als für die Prüfung des Antrags zuständig bestimmt ist. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes sowie aus dem allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 GR-Charta geht jedoch hervor, dass die Überstellung eines Antragstellers in den nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaat nicht nur im Fall systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen, sondern in all jenen Situationen ausgeschlossen ist, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei oder infolge seiner Überstellung der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung ausgesetzt sein wird (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87; VG Aachen, Urteil vom 1. Dezember 2020 - 9 K 3816/18.A -, nicht veröffentlicht; VG Karlsruhe Gerichtsbescheid vom 11. März 2020 - A 9 K 3651/18 -, juris, Rn. 35; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 27. Januar 2020 - 22 K 13275/17.A -, juris, Rn. 41).

Denn für die Anwendung von Art. 4 GR-Charta, der Art. 3 EMRK entspricht, ist es gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin III-VO einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Die Überstellung eines Antragstellers in diesen Mitgliedstaat ist in all jenen Situationen ausgeschlossen, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei oder infolge seiner Überstellung einer solchen Gefahr ausgesetzt wird. [...]

Eine Überstellung ist daher immer auch dann unzulässig, wenn im Einzelfall eine Verletzung des Art. 4 GR-Charta droht. Mit anderen Worten kommt es für die Unzulässigkeit der Rücküberstellung nicht (mehr) darauf an, ob im an sich zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel vorliegen oder ob dem Asylsuchenden dort (nur) im Einzelfall eine Verletzung von Art. 4 GR-Charta droht. Hieraus kann nur folgen, dass sodann auch die hieran anknüpfende Rechtsfolge, nämlich die des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO, identisch sein muss. [...]

bb) Nach diesen Maßgaben ist im aktuellen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht zuletzt auch unter Berücksichtigung der Entwicklungen seit Beginn der Corona-Pandemie und deren gesundheitlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger im Falle einer Rückkehr nach Italien eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht. [...]

Die Gefahr der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ergibt sich dabei auch unabhängig davon, ob und inwieweit die Betroffenen im Falle einer Rücküberstellung eine – von der seitens der italienischen Behörden vorab erfolgten Zustimmung zur Rücküberstellung abhängigen – gewisse Hilfestellung dahingehend erhalten, dass sie am Flughafen des Überstellungszielortes und bei der womöglich erforderlichen inneritalienischen Weiterreise unterstützt werden (vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 41 ff.).

Denn selbst bei Annahme einer solchen "Starthilfe" erweist sich das italienische Unterbringungssystem (weiterhin) in Bezug auf vulnerable Personen als in menschenrechtlicher Hinsicht beachtlich defizitär (dazu [1]). Adäquate Möglichkeiten, trotz fehlender angemessener Unterkunft auf sich allein gestellt für sich sorgen zu können, gibt es für vulnerable Personen dabei nicht (dazu [2]). [...]

An diesen Missständen hat sich nach aktueller Erkenntnislage nichts Entscheidungserhebliches geändert. Das erkennende Gericht sieht sich daher auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen nicht veranlasst, für vulnerable Personen die beachtliche Gefahr, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, zu verneinen, sofern Italien keine konkrete und individualisierte Zusicherung abgegeben hat, dass die Betroffenen eine gesicherte Unterkunft und hinreichende Unterstützung erhalten werden. [...]

(2) Im Übrigen erweist sich eine Rücküberstellung vulnerabler Personen ohne individuelle Zusicherung hinreichender Versorgung nicht etwa deshalb als unionsrechtskonform, weil es den Betroffenen trotz der Frage der Unterbringung möglich wäre, für sich sorgen zu können. Denn insoweit erweist sich die Situation des Arbeitsmarktes sowie der staatlichen oder nichtstaatlichen Unterstützungshandlungen als prekär. Vor diesem Hintergrund hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen unter Auswertung der aktuellen Erkenntnisse ausgeführt, dass selbst ein junger, gesunder und alleinstehender Dublin-Rückkehrer in Italien nicht für sich sorgen könne (vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 1689/20.A -, juris, Rn. 110 ff.). [...]

Nach alledem bedarf es vor einer Abschiebungsanordnung von Familien mit minderjährigen Kindern, wie bei den Klägern und ihrer Familie, einer individuellen Garantieerklärung, dass Schutzsuchende bei ihrer Ankunft in Italien (auch aktuell) in Einrichtungen und unter Bedingungen untergebracht werden, die dem Alter der Kinder entsprechen und dass die Familieneinheit gewahrt wird.

Das Vorliegen einer solchen individuellen Garantieerklärung der italienischen Behörden ist für die Kläger und ihrer Familie nicht vorgetragen und ergibt sich auch nicht aus dem beigezogenen Verwaltungsvorgängen des Bundesamtes. [...]

2. Die in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids ausgesprochene Unzulässigkeitsentscheidung kann nicht in eine solche auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG beruhende Unzulässigkeitsentscheidung umgedeutet  erden. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag (auch) unzulässig, wenn ein weiteres Asylverfahren bei einem Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG nicht durchzuführen ist, weil dessen Voraussetzungen nicht vorliegen. [...]