OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.02.2022 - 11 S 88.19 (Asylmagazin 5/2022, S. 171 ff.) - asyl.net: M30459
https://www.asyl.net/rsdb/m30459
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Abschiebung eines vietnamesischen Vaters deutscher Kinder:

1. Ein rechtliches Abschiebungshindernis nach § 60a Abs. 2 AufenthG kann sich für einen drittstaatsangehörigen Elternteil eines Kindes mit Unionsbürgerschaft daraus ergeben, dass das minderjährige Kind durch die Abschiebung faktisch ebenfalls zur Ausreise gezwungen wäre. Dem stehen seine Rechte aus der Unionsbürgerschaft nach Art. 20 AEUV entgegen.

2. Vorliegend ist die Abschiebung des Antragstellers bis zur Klärung der Hauptsache auszusetzen, da gewichtige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein Abhängigkeitsverhältnis deutscher Kinder vorliegt und eine Wiedereinreise nach einem kurzen, verlässlich zu begrenzenden Zeitraum nicht gesichert ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Drogendelikt, Straftat, deutsches Kind, Eltern-Kind-Verhältnis, Kindeswohl, Unionsbürgerschaft, Unionsbürgerkind, Schutz von Ehe und Familie, Abschiebungshindernis, vorläufiger Rechtsschutz,
Normen: AufenthG § 28, AEUV Art. 20, GG Art. 6, AufenthG § 60a Abs. 2,
Auszüge:

[...]

1. Mit der Beschwerdebegründung bestehen nach der hier nur möglichen summarischen Prüfung bereits gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die Ausreise des Antragstellers für die zum Familienverband gehörenden deutschen Kinder einen nicht mit Art. 20 AEUV vereinbaren faktischen Zwang zur Ausreise und deshalb ein rechtliches Abschiebungshindernis gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG begründen könnte. Dies gebietet eine dem Hauptsacheverfahren vorzubehaltene Prüfung aller Umstände des konkreten Falles (vgl. Beschluss des Senats vom 31. Oktober 2019 - OVG 11 S 63.19 -, juris Rn. 7 und vom 12. November 2019 - OVG 11 S 55.19).

Zwar beschränkt sich die Annahme eines rechtlichen oder faktischen Zwangs zum Verlassen des Unionsgebiets für einen minderjährigen Unionsbürger und damit die Beseitigung der praktischen Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft auf seltene Ausnahmefälle, in denen ein rechtliches, wirtschaftliches oder affektives Abhängigkeitsverhältnis vom Drittstaatsangehörigen in der Weise besteht, dass sich das betroffene Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn diesem ein Aufenthaltsrecht verweigert würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 - 1 C 16/17 -, BVerwGE 162, 349-363, juris Rn. 35; BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15/12 -, juris Rz. 31 ff.). Einer solchen Feststellung muss die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Kindeswohls zugrunde liegen. Dabei ist auch die Dauer einer zu erwartenden Trennung des Kindes vom drittstaatsangehörigen Elternteil zu berücksichtigen. Insoweit spielt eine Rolle, ob der Drittstaatsangehörige das Unionsgebiet - etwa zur Nachholung des Visumverfahrens - für unbestimmte Zeit oder aber nur für einen kurzen, verlässlich zu begrenzenden Zeitraum zu verlassen hat (BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 - 1C 16/17 -, BVerwGE 162, 349-363, juris Rn. 35 unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 - C-82/16 - juris Rn. 56 und 58).

Hier sind jedoch für das Vorliegen eines solchen Falles der Abhängigkeit der deutschen Kinder und vom Antragsteller gewichtige Anhaltspunkte dargelegt und glaubhaft gemacht:

Dass zwischen dem Antragsteller und den deutschen Kindern seiner Ehefrau eine familiäre Lebensgemeinschaft besteht, ist unstreitig. Es bestehen ferner erhebliche Anhaltspunkte für ein affektives Abhängigkeitsverhältnis der zum familiären Verbund gehörenden deutschen Kinder. Der Antragsteller hat mit der Beschwerdebegründung diesbezüglich nachvollziehbar vorgetragen und glaubhaft gemacht, dass er neben der Mutter die wichtigste Bezugsperson sei. Dies steht hinsichtlich der eingebürgerten deutschen leiblichen Tochter des Antragstellers außer Frage. Zudem hat die Ehefrau des Antragstellers durch eidesstattliche Erklärung vorgetragen, dass der Antragsteller sich um alle drei Kinder kümmere. Auch zu ihrem 13-jährigen deutschen Sohn aus vorheriger Partnerschaft, pflege er ein sehr inniges Verhältnis.

Das Vorliegen eines unionsrechtswidrigen faktischen Zwangs zur Ausreise für die beiden deutschen Kinder der Ehefrau des Antragstellers ist auch nicht mit Blick darauf in Zweifel zu ziehen, dass diese über eine sie auch zur Erwerbstätigkeit berechtigende Aufenthaltserlaubnis verfügt. Denn die Ehefrau hat in der oben genannten eidesstattlichen Versicherung erklärt, dass die Zeit der Untersuchungshaft-Verbüßung für sie sehr schwer gewesen sei. Sie habe das kaum stemmen können. Dies habe ihnen nochmals vor Augen geführt, wie stark sie aufeinander angewiesen seien. Falls ihr Ehemann tatsächlich nach Vietnam zurückkehren müsste, würden sie ihm als Familie folgen.

Eine Beurteilung der Frage, ob der Antragsteller für unbestimmte Zeit oder für einen kurzen verlässlich zu begrenzenden Zeitraum ausreisen müsste, und wie sich dies auf die Annahme eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts auswirkt, bleibt der Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten. Denn der voraussichtliche Zeitraum der Trennung kann - worauf auch die Beschwerde hinweist - im vorliegenden Eilverfahren nicht abgeschätzt werden. So lässt sich der angegriffenen Entscheidung insoweit nur entnehmen, dass die mit der Durchsetzung der Ausreisepflicht bewirkte Trennung nur vorübergehender Natur sei, weil der Antragsteller nach der Visumerteilung wieder nach Deutschland einreisen könnte. Um welchen Zeitraum es dabei geht, lässt die erstinstanzliche Entscheidung offen. Es kann im vorliegenden Eilverfahren auch nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Trennung des Antragstellers von seiner Familie nur um einen überschaubaren Zeitraum von wenigen Tagen oder Wochen für die Erteilung des Visums handeln würde. In diesem Zusammenhang beruft sich der Antragsgegner darauf, dass der Antragsteller es in seiner Hand habe, die Ausreise zu gestalten und die Dauer des Visumverfahrens zu verkürzen. Dem ist zwar zuzugeben, dass es Konstellationen geben kann, in welchen sich die Länge eines Visumverfahrens absehbar auf wenige Tage oder Wochen beschränkt. Dies ist z.B. der Fall, wenn die Ausländerbehörde bereits eine Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV erteilt hat und sich die daraus folgende Dauer des Visumverfahrens aus einer belegten Auskunft der zuständigen Botschaft ergibt (BayVGH, Beschluss vom 20. Juni 2017 - 10 C 17.744 -, juris Rn. 10). Gleiches mag anzunehmen sein, wenn sich die Ausländerbehörde dahingehend einlässt, dass der betroffene Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels habe, da er Vater von minderjährigen deutschen Kindern sei (BayVGH, Beschluss vom 21. Januar 2020 - 10 CE 20.60 -, juris Rn. 8). Eine vergleichbare Situation ist vorliegend jedoch nicht gegeben. Der Antragsgegner hat weder eine Vorabzustimmung erteilt noch sich dahingehend eingelassen, dass dem Antragsteller ein entsprechendes Visum zu erteilen wäre. Er führt nur aus, dass der Fall hier - nun auch vor dem Hintergrund des Art. 20 AEUV - geprüft worden sei. Dies habe zur Folge, dass er im Rahmen des nachzuholenden Visumverfahrens schnell entscheiden könne. Zudem könne mitgeteilt werden, dass das Auswärtige Amt den Antragsgegner auf dessen Nachfrage darüber informiert habe, dass an der Botschaft in Hanoi derzeit keine Wartezeiten für Antragsteller bestehen, die zum Zwecke des Familiennachzugs nach Deutschland einreisen wollen. Lege man all dies zugrunde, erscheine eine freiwillige Ausreise günstiger und schneller als eine Abschiebung, die aufgrund des bestandskräftigen Bescheids vom 25. April 2018 ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von drei Monaten hervorrufen würde. Eine klare Positionierung des Antragsgegners sowie eine belastbare zeitliche Einschätzung lassen sich dem aber nicht entnehmen. Dies wird im Hauptsacheverfahren zu klären sein.

Eine andere Beurteilung ist auch nicht mit Blick darauf geboten, dass der Antragsgegner geltend macht, einer Duldung stehe entgegen, dass der Antragsteller mehrfach "Ausweisungsinteressen gesetzt" habe und dies auch nach dem oben genannten Urteil des EuGH vom 8. Mai 2018 - C-82/16, juris Rn. 90 ff. einen Eingriff in die Rechte aus Art. 20 AEUV ermögliche. [...]