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OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 23.11.2021 - 3 B 58/21 - asyl.net: M30449
https://www.asyl.net/rsdb/m30449
Leitsatz:

Duldung zur Pflege von Angehörigen:

1. Aus Art. 6 GG folgt im Einzelfall die Unzulässigkeit der Abschiebung, wenn die sich aus einer Ausreise ergebenden Schwierigkeiten für den Erhalt der Familiengemeinschaft nach Art und Schwere groß sind.

2. Ist ein im Bundesgebiet lebendes Familienmitglied aufgrund von Erkrankung oder fortgeschrittenem Alter auf die tatsächlich erbrachte Pflege und Hilfe durch ein anderes Familienmitglied angewiesen, so kommt es nicht darauf an, ob die erbrachte Hilfe auch durch andere Personen, etwa einen Pflegedienst, geleistet werden könnte.

3. Dem Antragsteller ist im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes eine Duldung zu erteilen, da aufgrund der Pflegebedürftigkeit seiner Mutter seine Abschiebung aus rechtlichen Gründen unmöglich ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Duldung, familiäre Beistandsgemeinschaft, Pflege, Mutter, Kind, Familie, Schutz von Ehe und Familie, pflegebedürftig, vorläufiger Rechtsschutz,
Normen: EMRK Art. 8, AufenthG § 60a Abs. 2, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

7 Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg. Vorläufiger Rechtsschutz ist nach § 123 VwGO zu gewähren, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes glaubhaft (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO) gemacht ist. [...]

8 Ausgehend von diesen Maßstäben ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen, dass das Verwaltungsgericht einen Anordnungsanspruch im Ergebnis zu Unrecht abgelehnt hat. Mit seiner Beschwerdebegründung hat der Antragsteller nunmehr glaubhaft gemacht, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, also eine Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen Gründen vorliegen. Insbesondere durch die Vorlage der ärztlichen Bescheinigung von Dr. vom 2021 hat er glaubhaft gemacht (§ 173 VwGO, § 920 Abs. 2, § 921 Satz 1, § 294 Abs. 1 ZPO), dass seine Anwesenheit im Bundesgebiet wegen der Pflegebedürftigkeit seiner 91-järhigen Mutter und der deshalb von ihm bei ihr geleisteten häuslichen Pflege erforderlich ist. Seine Abschiebung als volljähriges Kind seiner Mutter verstößt gegen den von Art. 6 GG umfassten Schutz der Familie. Aus Art. 6 GG folgt unter strengen Voraussetzungen im Einzelfall die Unzulässigkeit einer Abschiebung, wenn die mit der Versagung weiteren vorläufigen Verbleibs eintretenden Schwierigkeiten für den Erhalt der Familiengemeinschaft nach ihrer Art und Schwere so ungewöhnlich und groß sind, dass die auch nur zeitweise Ausreise als schlechterdings unvertretbar anzusehen ist. Dies setzt in Fällen der vorliegenden Art voraus, dass der im Bundesgebiet lebende Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen ist, und dass diese Hilfe nur im Bundesgebiet erbracht werden kann. Ein solches Bedürfnis kann bei schwerwiegender Erkrankung, Behinderung oder fortgeschrittenem Alter mit Pflegebedürftigkeit vorliegen. Angewiesen ist der sonstige Familienangehörige auf die Lebenshilfe des Kindes nur dann, wenn die Hilfe auch tatsächlich erbracht wird. Es kommt dagegen nicht darauf an, ob die tatsächlich erbrachte Hilfe auch von anderen Personen, etwa einem Pflegedienst, geleistet werden könnte; das Wesen der Familie als Beistandsgemeinschaft wird durch die direkte Lebenshilfe der Angehörigen geprägt (SächsOVG, Beschl. v. 15. Juni 2010 - 3 B 515/09 -, juris Rn. 5 m. w. N.).

9 Diese Voraussetzungen sind hier jedenfalls im Hinblick auf die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG erfüllt. Die Mutter des Antragstellers hat unter dem 17. März 2021 eidesstattlich versichert, dass sie ohne die Hilfe ihres Sohnes nicht auskomme. Es gebe Umstände, unter denen nur er ihr helfen könne. Wenn sie nachts aufstehe, werde ihr oft schwindelig und sie könne nicht alleine zur Toilette gehen. Dies steht in Einklang mit dem vorläufigen Entlassungsbericht des Universitätsklinikums Leipzig vom 2020, wonach u. a. eine Bewusstlosigkeit (Synkope) der Mutter des Antragstellers mit einem Sturzereignis diagnostiziert wurde. [...]