SG Neuruppin

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Zitieren als:
SG Neuruppin, Beschluss vom 20.01.2022 - S 27 AY 2/22 ER (Asylmagazin 7-8/2022, S. 271 f.) - asyl.net: M30401
https://www.asyl.net/rsdb/m30401
Leitsatz:

Vorläufige Leistungsgewährung wegen Ermessensnichtgebrauch bei Befristung:

1. Die Entscheidung, für welchen Zeitraum bis zu sechs Monaten die Befristung nach § 14 Abs. 2 AsylbLG fortzusetzen ist, steht im Ermessen der Bewilligungsbehörde.

2. Bei Ermessensnichtgebrauch ist ein Anordnungsanspruch hinsichtlich der Gewährung uneingeschränkter Leistungen nach § 3 AsylbLG gegeben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Sozialrecht, Leistungskürzung, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung, Ermessen, Ermessensfehler, einstweilige Anordnung,
Normen: AsylbLG § 3, AsylbLG § 14 Abs. 2, AsylbLG § 1a Abs. 1, AsylbLG § 1a Abs. 3 S. 1, SGG § 86b Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 5. Januar 2022 bis zum 30. Juni 2022, längstens jedoch bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, vorläufig Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Höhe von monatlich 330 EUR zu gewähren. [...]

Der Antrag ist als Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG statthaft. Maßgebend für die Art und Weise, in der vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren ist, ist der im Hauptsacheverfahren statthafte Rechtsbehelf. Richtige Klageart im Hauptsacheverfahren wäre vorliegend eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage, gerichtet auf die unmittelbare Gewährung höherer Leistungen nach § 3 AsylbLG (vgl. Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, Stand: 12.02.2021, § 1a AsylbLG, Rn. 215).

Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. [...]

Nach § 1a Abs. 3 AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AsylbLG, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, ab dem auf die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung oder Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung folgenden Tag nur Leistungen entsprechend Absatz 1. Ihnen werden folglich — soweit ein vorwerfbares Verhalten zur Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendigender Maßnahmen führt — nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt. [...]

Mithin lagen die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss nach § 1a AsylbLG grundsätzlich vor.

Der streitige Bescheid vom 27. Dezember 2021 leidet jedoch bezüglich der von dem Antragsgegner vorgenommenen Befristung auf sechs Monate an einem Ermessensnichtgebrauch und ist bereits deshalb rechtswidrig; er verletzt den Antragsteller in seinen Rechten.

Nach § 14 AsylbLG sind die Anspruchseinschränkungen nach diesem Gesetz auf sechs Monate zu befristen (Abs. 1). Im Anschluss ist die Anspruchseinschränkung bei fortbestehender Pflichtverletzung fortzusetzen, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen der Anspruchseinschränkung weiterhin erfüllt werden (Abs. 2). Nach dieser Regelung ist erforderlich, dass bei fortbestehendem Fehlverhalten die Behörde in eine neue Prüfung eintreten muss, ob die behördliche Sanktion noch geeignet ist, um das gewünschte Verhalten bzw. Ergebnis zu erreichen (Oppermann in: jurisPKSGB XII, Stand 10. Mai 2021, § 14 AsylbLG Rn. 19). Auch den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass es der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet, dass ein nicht mehr änderbares, zurückliegendes Fehlverhalten oder sogar ein bereits korrigiertes Fehlverhalten in einer Sanktion nicht unbegrenzt fortwirkt (vgl. BT-Drs.18/6185, S. 47 - 48). Deshalb ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob vor einer erneuten Anspruchseinschränkung das mit der Sanktion verfolgte Ziel noch erreicht werden kann. Lediglich wiederholende Mitteilungen der Behörde erfüllen damit nicht die Anforderungen an eine erneute Sach- und Rechtsprüfung (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. Juli 2021 L 7 AY 1929/21 ER-B, m.w.N.).

Während die Entscheidung darüber, ob die Anspruchseinschränkungen bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen fortzusetzen sind, eine im gerichtlichen Verfahren uneingeschränkt überprüfbare Rechtsentscheidung ohne Beurteilungsspielraum für die Bewilligungsbehörde ist, liegt die Entscheidung darüber, für welchen Zeitraum bis zu sechs Monaten die Befristung fortzusetzen ist, im Ermessen der Bewilligungsbehörde. Diese Ermessensentscheidung darf von den Sozialgerichten nur in den Grenzen des § 54 Abs. 2 SGG überprüft werden. Im Rahmen ihrer Ermessensbefugnis muss die Bewilligungsbehörde das öffentliche Interesse an der Fortsetzung der Befristung mit dem persönlichen Interesse des Hilfeempfängers an einer Wiederaufnahme uneingeschränkter Leistungen abwägen. Die Bewilligungsbehörde hat diesbezüglich für jede Anspruchseinschränkung gesondert zu entscheiden, für welche Zeiträume bis zu weiteren sechs Monaten die Anspruchseinschränkung fortzusetzen ist. Zwar darf die Bewilligungsbehörde im Rahmen ihrer Ermessensermächtigung bei der Festsetzung der Dauer der fortgesetzten Anspruchseinschränkung berücksichtigen, dass es auch in diesem Zusammenhang darum geht, rechtsmissbräuchliches Verhalten durch die sparsame Verwendung steuerfinanziertes Mittel zu sanktionieren. Wenn in der Vergangenheit liegendes nicht mehr korrigierbares Verhalten sanktioniert werden soll, ist die Fortsetzung der Befristung jedoch die Ausnahme und darf nur bei schwerwiegenden Verstößen des Hilfeempfängers angeordnet werden. In den Fällen der Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG liegt ein in die Zukunft wirkendes schuldhaftes Verhalten des Hilfeempfängers zugrunde. Die Bewilligungsbehörde darf deshalb im Rahmen ihres Ermessens bei der Entscheidung über die Dauer der weiteren Befristung die Schwere des unverändert vorliegenden Verstoßes berücksichtigen und die Frist von sechs Monaten voll ausschöpfen; die Begründung einer Ermessensentscheidung muss jedoch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (Söhngen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 54 SGG, Stand: 30.06.2020, Rn. 57; Deibel GK-AsylbLG, Stand: Dezember 2019 III - § 14 Rn. 33-34, 37). In dem streitigen Bescheid vom 27. Dezember 2021 hat der Antragsgegner begründet, warum aus seiner Sicht ein Leistungsausschluss nach § 1a AsylbLG vorliegt. Der streitige Bescheid lässt bezüglich der Dauer der angeordneten Befristung jedoch sämtliche Ermessenserwägungen vermissen. Es ist bereits nicht ersichtlich, ob der Antragsgegner überhaupt erkannt hat, dass ihm bei der Entscheidung über die Dauer der weiteren Befristung ein Ermessen zusteht [...]