KG Berlin

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Zitieren als:
KG Berlin, Beschluss vom 28.01.2022 - 1 W 18/21, 1 W 19/21 - asyl.net: M30397
https://www.asyl.net/rsdb/m30397
Leitsatz:

Passbeschaffung für Resettlement-Flüchtlinge unzumutbar:

"1. Resettlement-Flüchtlingen, denen auf Grund der Anordnung des Bundesministeriums des Innern gemäß § 23 Absatz 4 Aufenthaltsgesetz zur Aufnahme bestimmter Flüchtlinge unterschiedlicher Staatsangehörigkeit oder staatenloser Flüchtlinge aus dem Sudan und aus dem Libanon vom 24. September 2015 eine Aufnahme­zusage erteilt worden ist, kann nicht zugemutet werden, sich einen Reisepass ihres Heimatstaates (hier Eritrea) zu beschaffen. Für die Identitätsfeststellung im Personenstandsverfahren kann in diesem Fall ein im Inland ausgestellter Reiseausweis für Ausländer in Verbindung mit anderen ermittelten Indizien ausreichend sein [...]."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Resettlement, Resettlement-Flüchtlinge, Passbeschaffung, Eritrea, Identitätsfeststellung, Geburtsurkunde, Personenstandsverfahren, Standesamt, Namensführung, Namensbestimmung, Genfer Flüchtlingskonvention, UNHCR, Zumutbarkeit,
Normen: AsylG § 3, AufenthG § 23 Abs. 4, AufenthV § 4 Abs. 1 S. 1, PStV § 33 S. 1,
Auszüge:

[...]

9 a) Die Identität der Beteiligten zu 1 steht zur Überzeugung des Senats mit der hierzu erforderlichen Sicherheit (vgl. BGH, NJW 2017, 3152; Senat, Beschluss vom 26. Februar 2019 – 1 W 561-564/17 – FamRZ 2019, 685) fest. Deshalb sind die einschränkenden Vermerke in den Geburtenregistereinträgen zur Mutter nicht mehr veranlasst, die Einträge insoweit zu berichtigen.

10 Die Ausländerbehörde des Landes Berlin hat der Beteiligten zu 1 am 17. Dezember 2018 einen Reiseausweis für Ausländer, §§ 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 5 Abs. 1 AufenthV, ausgestellt, in dem keine Einschränkungen zur Identität der Inhaberin, § 4 Abs. 6 AufenthV, vermerkt worden sind. Dabei handelt es sich um ein anerkanntes Passersatzpapier im Sinne des § 33 S. 1 Nr. 3 PStV. Der Reiseausweis für Ausländer kann ein hinreichender Identitätsnachweis sein, wenn sonstige Umstände für die Richtigkeit der dortigen Personenangaben sprechen (BGH, a.a.O., 3153).

11 aa) Der Senat teil im Ausgang die Auffassung des Amtsgerichts, dass zur Identitätsfeststellung ein Rückgriff auf einen in Deutschland ausgestellten Reiseausweis für Ausländer in Verbindung mit sonst ermittelten Indizien nicht in Betracht kommt, wenn die betreffende Person einen heimatstaatlichen Reisepass als das vom Gesetz primär vorgesehene Beweismittel vorlegen könnte.

12 (1) Dies gilt jedoch nicht, wenn die Beschaffung eines solchen Passes nicht zumutbar ist. Das ist nach der Rechtsprechung des Senats der Fall bei anerkannten Flüchtlingen (Senat, Beschluss vom 19. September 2019 – 1 W 230/19 – StAZ 2020, 374) oder solchen Asylbewerbern, deren Antrag auf Gewährung von Asyl noch nicht bestandskräftig abgewiesen worden ist (Senat, nicht veröffentlichter Beschluss vom 16. Januar 2020 – 1 W 156/19). Bei diesen Personen bestünde die Gefahr des Erlöschens der Anerkennung als Asylberechtigter oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.

13 (2) Die Beteiligte zu 1 ist nicht anders zu behandeln.

14 (aa) Dabei übersieht der Senat nicht, dass ihr die Flüchtlingseigenschaft von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bislang nicht zuerkannt worden ist, § 3 Abs. 4 AsylG, die Beteiligte zu 1 auch keinen Antrag auf Gewährung von Asyl gestellt hat. Die Beteiligte zu 1 ist aber Flüchtling im Sinne von Art. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GKF – BGBl II 1953, 559; 1954, 619). Dies festzustellen ist der Senat befugt (Thorn, in: Grüneberg, BGB, 81. Aufl., Anhang zu § 5 EGBGB, Rdn. 22). Eine vorherige Anerkennung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach § 3 Abs. 4 AsylG ist hierzu nicht erforderlich (vgl. Tometten, ZAR 2015, 299, 300).

15 Flüchtling ist eine Person, die sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will, Art. 1 A Ziff. 2 HS 1 GFK (in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967, BGBl II 1293). Die Beteiligte zu 1 erfüllt diese Anforderungen.

16 Sie ist mit ihren beiden älteren Kindern im Rahmen eines von der UNHCR organisierten Resettlement-Programms am 14. Dezember 2015 aus dem Sudan kommend in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Ihre Aufnahme erfolgte aufgrund des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 3. Dezember 2015, der auf "Anordnung des Bundesministeriums des Innern gemäß § 23 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz zur Aufnahme bestimmter Flüchtlinge unterschiedlicher Staatsangehörigkeit oder staatenloser Flüchtlinge aus dem Sudan und aus dem Libanon vom 24. September 2015" (abrufbar unter www.bmi.bund.de) ergangen war. Danach erfolgte die Aufnahme und Neuansiedlung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge aus Drittstaaten in Zusammenarbeit mit dem UNHCR.

17 Für das deutsche Resettlement-Verfahren kommen in der Regel nur bei dem UNHCR registrierte Flüchtlinge in Betracht (Hecker in: BeckOK, Ausländerrecht, 10/2021, § 23 AufenthG, Rdn. 5a). Hieraus wird teilweise gefolgert, dass von dem UNHCR identifizierte Flüchtlinge alle Tatbestandsmerkmale des Art. 1 GFK erfüllen (Tometten, a.a.O.; Göbel-Zimmermann/Hupke, in: Huber/Mantel, AufenthG/AsylG; § 23 AufenthG, Rdn. 40). Nach anderer Ansicht soll die Flüchtlingsdefinition des UNHCR über die Genfer Flüchtlingskonvention hinausgehen (Hecker, a.a.O.). Welche dieser Auffassungen zutrifft, muss nicht entschieden werden. Nach den dem Senat zugänglichen Angaben des UNHCR (Deutschland) bedarf es, um für einen Resettlement-Platz vorgeschlagen zu werden, in der Regel der Anerkennung einer Person als Flüchtling im Erstzufluchtsland (vgl. www.unhcr.org). Eine solche Anerkennung ist vorliegend offenbar erfolgt. Die Beteiligte zu 1 verfügte bei ihrer Einreise über einen Reiseausweis für Flüchtlinge der Republik Sudan nach Art. 28 Abs. 1 GFK (Blatt 10 bis 14 der Ausländerakte).

18 Danach liegen hier genügend Anhaltspunkte vor, die die Feststellung der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft der Beteiligten zu 1 nach Artikel 1 A Ziff. 2 HS 1 GFK durch den Senat rechtfertigen. Weitere Ermittlungen hierzu sind im Rahmen der Beschwerde nicht erforderlich.

19 (bb) Unterfällt die Beteiligte zu 1 aber dem Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention, ist es ihr ebenso wenig wie einem nach § 3 Abs. 4 AsylG als Flüchtling anerkannten Ausländer zumutbar, auf die Beschaffung eines heimatstaatlichen Passes verwiesen zu werden. Das folgt aus Art. 1 C S. 1 Nr. 1 GFK. Danach geht die Flüchtlingseigenschaft verloren, wenn sich der Ausländer freiwillig erneut dem Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt. Dieser Regelung ist § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG angelehnt (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl., § 72 AsylG, Rdn. 2), der die Annahme oder Erneuerung eines nationalen Passes als Indiz der Unterstellung des Schutzes des Heimatstaates aufführt (vgl. Fleuß, in: BeckOK Ausländerrecht, a.a.O., § 72 AsylG, Rdn. 10).

20 Von einer solchen Unzumutbarkeit ist hier offensichtlich auch die Ausländerbehörde ausgegangen, die der Beteiligten zu 1 einen Reiseausweis für Ausländer ausgestellt hat (teilweise wird bei Resettlement- Flüchtlingen die Ausstellung von Reiseausweisen für Flüchtlinge gefordert: Tometten, a.a.O., 300; Göbel-Zimmermann/Hupke, a.a.O.). Voraussetzung für die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer ist es, dass der Ausländer nachweislich keinen Pass oder Passersatz besitzt und ihn nicht auf zumutbare Weise erlangen kann, § 5 Abs. 1 AufenthV. [...]