VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 07.01.2022 - 38 K 380/21 V (Asylmagazin 9/2022, S. 327 ff.) - asyl.net: M30388
https://www.asyl.net/rsdb/m30388
Leitsatz:

Erfolgreicher Antrag auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten:

1. Jedenfalls eine fünf Jahre dauernde Trennung stellt eine lange Zeit dar und gemäß § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG einen humanitären Grund für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten.

2. Ob bei einer bloß mittelbaren Betroffenheit minderjähriger Kinder humanitäre Gründe i.S.d. § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AufenthG vorliegen, ist in der Rechtsprechung der Kammer nicht geklärt.

3. Grundsätzlich können in eine Ermessensentscheidung nach § 36a Abs. 1 AufenthG auch Inte­grationsaspekte einbezogen werden. Weil dieser aber auch auf der nachfolgenden Stufe bei der Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 S. 2 AufenthG zu beachten sind, darf ihnen nur eingeschränktes Gewicht zukommen. Solange eine Mindestschwelle von Integrationsbemühungen erreicht wird, sind Integrationsaspekte im Übrigen allein für die durch das Bundesverwaltungsamt zu treffende Auswahlentscheidung maßgeblich.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, subsidiärer Schutz, minderjährig, Kinder, Trennung, Integration, Syrien, Familiennachzug, Familieneinheit, Familienangehörige, Achtung des Familienlebens,
Normen: AufenthG § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 2, AufenthG § 36a Abs. 1, AufenthG § 36a Abs. 2 S. 2, AufenthG § 29 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

25   Nach § 36a Abs. 1 S. 1 Alt. 1 AufenthG kann dem Ehegatten eines Ausländers, der – wie der Kläger zu 1.) – als subsidiär Schutzberechtigter eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 36a Abs. 1 S. 1 Alt. 1 AufenthG sind im Fall der Klägerin zu 2.) erfüllt (dazu a]) und das von dieser Norm eröffnete Ermessen hat sich in einer Weise verdichtet, dass ihr Visumsantrag bei der Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 S. 2 AufenthG zu berücksichtigen ist (dazu b]). Diese Auswahlentscheidung kann indes das Gericht nicht anstelle der Beklagten vornehmen (dazu c]). [...]

28   Nach § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG liegen humanitäre Gründe, wenn die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit nicht möglich ist. Die Familie der Kläger ist seit der Flucht des Klägers zu 1.) im Februar 2016 getrennt, die Meldung als Schutzsuchender erfolgte am 1. März 2016 (zu den unterschiedlichen Anknüpfungspunkten siehe Dienelt, in: Bergmann/ Dienelt, AusländerR, 13. Aufl. 2020, § 36a AufenthG Rn. 38). Seitdem war weder in Syrien noch in einem anderen Land die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft möglich. [...] Auch in der Türkei, wo die Klägerin zu 2.) und die gemeinsamen Kinder seit Oktober 2020 leben, ist die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft nicht möglich. Nach den unwidersprochenen und zudem glaubhaften Angaben der Klägerin zu 2.) am 30. November 2020 gegenüber der IOM (Internationale Organisation für Migration), welche die Auslandsvertretungen bei der Entgegennahme bestimmter Visumsanträge unterstützt, haben sie und ihre Töchter dort kein Aufenthaltsrecht, so dass ein Familiennachzug des Klägers zu 1.) dorthin ausgeschlossen war und ist. Die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft ist somit nunmehr zum Jahreswechsel 2021/2022 seit deutlich über fünf Jahre und damit jedenfalls eine "lange Zeit" i.S.d. § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG unmöglich. Zwar ist in der Rechtsprechung der Kammer noch nicht geklärt, ab welcher Länge der Zeitraum der "langen Zeit" beginnt und was die Grenzen des Möglichen bzw. Zumutbaren sind. Durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (zum Ausnahmefall des Regelausschlussgrundes beim Ehegattennachzug) ist aber geklärt, dass den Familien jedenfalls keine längere Trennung als fünf Jahre zugemutet werden kann (BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2020 – BVerwG 1 C 30.19 –, NVwZ 2021, 1370 [1376] Rn. 36).

29   Ferner sind mit den 2005 und 2010 geborenen Kindern der Kläger, für die ebenfalls der Nachzug zum Stammberechtigten begehrt wird, zwei minderjährige Kinder mittelbar betroffen. Angesichts der obigen Ausführungen bedarf es keiner Beantwortung der Frage, ob bei einer solchen bloß mittelbaren Betroffenheit humanitäre Gründe i.S.d. § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AufenthG vorliegen (in diesem Sinne bei Kindern, die sich bereits im Bundesgebiet aufhalten: Zeitler, in: HTK-AuslR, § 36a AufenthG/Abs. 2 Satz 1, Stand: 30. April 2021, Nr. 3, Rn. 18; zur ausreichenden mittelbaren Betroffenheit aller Minderjährigen, die "in familiärer Beziehung zum Stammberechtigten oder Nachzugswilligen stehen": Berliner Landesamt für Einwanderung, Verfahrenshinweise zum Aufenthalt in Berlin, Stand: 27. September 2021, A.36a.2.1.2.).

30   Von dem Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts der Klägerin zu 2.) (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und dem Erfordernis ausreichenden Wohnraums für diese (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) ist abzusehen, weil ihr stammberechtigter Ehemann, der Kläger zu 1.), eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG hat (§ 29 Abs. 2 S. 1 AufenthG) und die Herstellung der ehelichen bzw. familiären Lebensgemeinschaft nicht in einem anderen Staat i.S.d. § 29 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 AufenthG möglich ist. [...]

32   b) Ferner hat sich das durch § 36a Abs. 1 S. 1 Alt. 1 AufenthG eröffnete Ermessen [sich] vorliegend in einer Weise verdichtet, dass die individuelle Ermessensbetätigung nur im Sinne einer positiven Ermessensbetätigung ausgeübt werden kann, so dass Visumsantrag der Klägerin zu 2.) bei der Auswahlentscheidung zu berücksichtigen ist.

33   Dabei verkennt das Gericht nicht, dass eine Ermessensentscheidung wie die Entscheidung nach § 36a Abs. 1 S. 1 Alt. 1 AufenthG nur begrenzt gerichtlich überprüfbar ist (§ 114 VwGO). Vorliegend besteht aber die Besonderheit, dass die Beklagte (bei individueller Betrachtung) ihr Ermessen im Sinne einer Visumserteilung ausgeübt hat und sich die vom Beigeladenen angestellten Ermessensüberlegungen, die sich ausschließlich auf eine mangelnde Integration des Klägers zu 1.) stützen, als rechtswidrig erweisen. Dem liegen folgende Überlegungen zugrunde:

34   Für die Prüfung durch die Auslandsvertretung der Beklagten, ob das (nationale) Visum zu erteilen ist (§ 71 AufenthG), und die Prüfung durch die zuständige Ausländerbehörde am beabsichtigten Wohnsitz, ob der Visumserteilung zugestimmt wird (§ 31 Abs. 1 AufenthV), gilt dasselbe Prüfprogramm (Winkelmann/Kolber, in: Bergmann/Dienelt, AusländerR, 13. Aufl. 2020, § 6 AufenthG Rn. 66). Dabei ist es eine grundsätzlich zulässige Ermessenserwägung sowohl der Auslandsvertretung als auch der Ausländerbehörde, Integrationsaspekte einzubeziehen, wenn – wie vorliegend – die Erteilung eines Aufenthaltstitels bzw. die Zustimmung zur Erteilung eines Visums in deren Ermessen steht (siehe beispielsweise Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, AusländerR, 13. Aufl. 2020, § 29 AufenthG Rn. 25, § 32 AufenthG Rn. 99; allgemein Hailbronner, in: Hailbronner, AusländerR, Stand: 1. Oktober 2019, § 1 AufenthG Rn. 8; Zeitler, in: HTKAuslR, § 1 AufenthG/zu Abs. 1, Stand: 23.07.2020, Nr. 4). Das Aufenthaltsgesetz soll nämlich die Zuwanderung unter Berücksichtigung unter anderem der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland ermöglichen und gestalten (§ 1 Abs. 2 S. 2 AufenthG). Diese gesetzliche Zielvorgabe, an der sich die Ausfüllung von sämtlichen Ermessenstatbeständen zu orientieren hat (Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26.Oktober 2009, Nr. 1.1.1.; siehe auch BT-Drs. 15/420, S. 68), gilt grundsätzlich auch für die Ermessensbetätigung nach § 36a Abs. 1 AufenthG (offen noch VG Berlin, Beschluss vom 8. Januar 2020 – VG 38 L 106/20 V –, juris Rn. 19; a.A. wohl Eichhorn, in: Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Aufl. 2021, § 36a AufenthG Rn. 19), zumal die Regelung des § 36a AufenthG ausdrücklich unter "Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationssysteme der Bundesrepublik Deutschland" geschaffen wurde (BT-Drs. 19/2438, S. 3).

35   Jedoch wirkt sich auf die Ermessensbetätigung nach § 36a Abs. 1 AufenthG aus, dass die Integrationsaspekte auch auf der nachfolgenden Stufe bei der Auswahlentscheidung zu beachten sind.

36   Nach § 36a Abs. 2 S. 2 AufenthG können nämlich monatlich (nur) 1.000 nationale Visa für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 36a Abs. 1 S. 2 (Alt. 1 und Alt. 2) und S. 2 AufenthG erteilt werden. Überschreitet in einem Monat die Anzahl der Visumsanträge, bei denen die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind und zudem eine positive individuelle Ermessensentscheidung getroffen wurde, dieses Kontingent, ist eine Auswahl zwischen den Visumsanträgen zu treffen (sog. Bestimmungs- oder Quotierungsverfahren). Diese Auswahlentscheidung wird in der Verwaltungspraxis nicht durch eine der Auslandsvertretungen oder das Auswärtige Amt vorgenommen, sondern durch das Bundesverwaltungsamt (BVA) als zentralem Dienstleister des Bundes im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums (siehe BT-Drs. 19/2438, S. 18; sowie auch Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat vom 13. Juli 2018 unter anderem an die Innenministerien der Länder zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten – M3-20010/18#3 –, S. 2, 3, 6; siehe auch Thym, NVwZ 2018, 1340 [1346]). Das Bundesverwaltungsamt trifft nach den Ausführungen in der Gesetzesbegründung "eine intern rechtliche verbindliche Entscheidung, welche Familienangehörigen zu den monatlich bis zu 1.000 Nachzugsberechtigten gehören" (BT-Drs. 19/2438, S. 18). Dabei ist das Bundesverwaltungsamt dazu verpflichtet, sich bei der Auswahlentscheidung (neben den humanitären Gesichtspunkten und dem Kindeswohl) an Integrationsaspekten zu orientieren (dazu Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, AusländerR, 13. Aufl. 2020, § 36a AufenthG Rn. 78-87; Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK-AusländerR, 31. Edition, Stand: 01.07.2021, § 36a AufenthG Rn. 17-19; Thym, NVwZ 2018, 1340 [1346]; Zeitler, in: HTK-AuslR, § 36a AufenthG – zu Abs. 2 S. 2-4 Auswahlentscheidung, Stand: 1. August 2018: Prüfung der Integrationsaspekte bei der Auswahlentscheidung, Nr. 3). [...]

39   Aus der Pflicht zur zweifachen Beachtung der Integrationsaspekte ergibt sich nun, dass der Ermessensspielraum (sowohl der Auslandsvertretung als auch der Ausländerbehörde) durch den Gesetzgeber in diesem Aspekt deutlich eingeschränkt wurde. Auf der Stufe der individuellen Ermessensbetätigung können nur eindeutige Fälle der mangelnden Integration bzw. der fehlenden Integrationschancen zu einer Versagung des Visums bzw. zu einer Versagung der Zustimmung zur Visumserteilung (§ 31 AufenthV) führen. Solange eine Mindestschwelle der Integration bzw. Integrationsbemühungen erreicht wird, ist die Güte dieser Bemühungen bzw. der daraus folgenden Integrationschancen allein für die durch das Bundesverwaltungsamt zu treffende Auswahlentscheidung maßgeblich. [...]