VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.01.2022 - A 4 S 2443/21 - asyl.net: M30387
https://www.asyl.net/rsdb/m30387
Leitsatz:

Keine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig bei Anerkennung in Griechenland:

"Asylanträge von Personen, denen bereits in Griechenland internationaler Schutz zuerkannt wurde, dürfen derzeit nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden. Vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls besteht nach aktuellen Erkenntnissen die ernsthafte Gefahr, dass solchen Personen wegen des "real risks" von Obdachlosigkeit eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK droht [...]."

(Amtlicher Leitsätze; anschließend an OVG Bremen, Urteil vom 16.11.2021 - 1 LB 371/21 - asyl.net: M30224)

Schlagwörter: Griechenland, internationaler Schutz in EU-Staat, Unzulässigkeit, Zulässigkeit, ausländische Anerkennung, Lebensbedingungen, Sekundärmigration, Anerkannte, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Aufnahmebedingungen, Versorgungslage, Hamed, Omar, Hamed und Omar,
Normen: EMRK Art. 3, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 77 Abs. 1, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

II. Die Klage ist auch begründet, denn der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 19.04.2018 verletzt den Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 HS 1 AsylG) in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwar hat die Beklagte ihren Bescheid im Ausgangspunkt zu Recht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, weil Griechenland dem Kläger am 26.10.2017 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat. Die Unzulässigkeitsentscheidung ist jedoch nicht mit Unionsrecht vereinbar.

1. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs darf ein Mitgliedstaat sich nicht auf Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Asylverfahrens-RL 2013/32/EU - dem § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG entspricht - berufen, wenn ein Antragsteller in dem Mitgliedstaat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren. [...]

2. Derartige Umstände können hier trotz der vom EuGH vorgegebenen "harten Linie" ausnahmsweise angenommen werden. Denn es muss davon ausgegangen werden, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Griechenland keine menschenwürdige Unterkunft finden, sondern für einen längeren Zeitraum obdachlos wäre.

Der Senat schließt sich insoweit nach eigener Prüfung den Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts Bremen in dessen Urteil vom 16.11.2021 - 1 LB 371/21 - an. Dieses hat überzeugend ausgeführt (Juris Rn. 39 ff.):

"Das Verwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, dass der Kläger als zurückkehrender international Schutzberechtigter in Griechenland grundsätzlich selbst dafür verantwortlich sein wird, sich eine Unterkunft zu beschaffen. Für anerkannt Schutzberechtigte gilt die Inländergleichbehandlung mit griechischen Staatsangehörigen. Es gibt in Griechenland kein staatliches Programm in Form einer Wohnraumzuweisung (Auswärtiges Amt, Auskünfte an das VG Bayreuth vom 21.08.2020, S. 1, sowie an das VG Leipzig vom 28.01.2020, S. 2). Es existieren auch keine speziellen Unterbringungsplätze für anerkannt Schutzberechtigte (AIDA, Country Report: Greece 2019 Update, S. 218; BFA, Länderinformationsblatt Griechenland vom 01.06.2021, S. 26). Die Unterkünfte des UNHCR-Unterbringungsprogramms "ESTIA" stehen anerkannt Schutzberechtigten nicht zur Verfügung, da sich das Programm nur an Asylbewerber richtet (Auswärtiges Amt, Auskünfte an das VG Leipzig vom 28.01.2020, S. 2, und an das VG Potsdam vom 23.08.2019, S. 2). International Schutzberechtigte müssen sich daher Wohnraum auf dem freien Wohnungsmarkt beschaffen. [...]

Ausgehend von diesen Erkenntnissen und Informationen wird der Kläger im Fall seiner Rückkehr nach Griechenland zur Überzeugung des Senats mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein, Zugang zu einer legalen, menschenwürdigen Unterkunft zu erhalten. Wie bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, erfüllt der Kläger weder die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung des sozialen Wohngeldes noch kann er von den Leistungen des ESTIA- oder HELIOS 2-Programms profitieren, sondern wird im Falle einer Rückkehr nach Griechenland bei der Unterkunftssuche voraussichtlich auf sich allein gestellt sein.

Der Kläger kann auch nicht auf seine Eigeninitiative, Netzwerke seiner Landsleute oder die Unterstützung von Kirchen oder lokalen oder internationalen Nichtregierungsorganisationen verwiesen werden. Zwar sind die Möglichkeiten eigener Handlungen sowie Unterstützungsleistungen privater Dritter und vor Ort tätiger nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen bei der Bewertung, ob bei der Rückführung oder Abschiebung die Gefahr einer Verletzung des Art. 4 GRC droht, zu berücksichtigen (BVerwG, Urt. v. 07.09.2021 - 1 C 3.21, juris Rn. 26). Dies hilft aber im konkreten Fall nicht weiter, da solche Hilfs- oder Unterstützungsleistungen für international Schutzberechtigte auch real bestehen und - ohne unzumutbare Zugangsbedingungen - hinreichend verlässlich und in dem gebotenen Umfang dauerhaft in Anspruch genommen werden können müssen. Hieran fehlt es im konkreten Fall. Nach den vorstehenden Ausführungen ist davon auszugehen, dass Unterbringungsmöglichkeiten durch kirchliche Projekte oder Nichtregierungsorganisationen in Griechenland - soweit überhaupt noch vorhanden - äußerst limitiert und dauerhaft überlastetet sind. Nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung verfügt der Kläger zudem weder über verwandtschaftliche noch über hinreichende freundschaftliche Beziehungen zu in Griechenland lebenden Personen, die ihn beim Finden einer Unterkunft und deren Finanzierung und Anmietung unterstützen könnten. Eine finanzielle Unterstützung durch seinen Bruder, wie von der Beklagten geltend gemacht, ist nach dem Ergebnis der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung ebenfalls nicht zu erwarten.

Der Kläger kann auch nicht auf "informelle Möglichkeiten" der Unterkunft in verlassenen bzw. besetzten Gebäuden verwiesen werden, denn der Aufenthalt in solchen Gebäuden wäre zum einen illegal und zum anderen wegen der dort zumeist herrschenden menschenunwürdigen Zustände unzumutbar“.

3. Dies entspricht der Einschätzung auch anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 19.04.2021 - 10 LB 244/20, Juris Rn. 29 ff., und OVG NRW, Urteil vom 21.01.2021 - 11 A 1564/20.A -, Juris Rn. 32 ff.) und wird zudem durch weitere dem Senat vorliegende und in das Verfahren eingeführte Erkenntnismittel gestützt.

Dabei kommt es nicht darauf an, ob es zu Zwangsräumungen von Unterkünften des von der EU finanzierten ESTIA-Programms gekommen ist. Während Pro Asyl/RSA (Stellungnahme - Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 7) anführt, dass in den vergangenen Monaten Tausende Menschen ihre Unterkünfte hätten räumen müssen, weist die Deutsche Botschaft in ihrer Stellungnahme vom Juni 2021 darauf hin, in Gesprächen sei zu erfahren gewesen, dass es nur vereinzelt, insbesondere bei Personen ohne besonderen Schutzbedarf (allein reisende Männer), auch Räumungen durch die Polizei gegeben haben solle. Zudem gibt es keine staatlichen Sozialwohnungen (Dt. Botschaft, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Stand: Juni 2021, S. 4). Ein gesetzlicher Anspruch in der griechischen Rechtsordnung auf Vermeidung von Obdachlosigkeit ist zumindest dem Auswärtigen Amt ebenso wenig bekannt wie Fälle, in denen solch ein Anspruch im Rahmen einer Leistungsklage geltend gemacht worden wäre (AA, Auskunft an VG Schleswig vom 15.10.2020, S. 2). In einem Beitrag vom 28.05.2021 auf der Webseite von Pro Asyl heißt es, in den Fällen von anerkannten Flüchtlingen, die aus Deutschland abgeschoben worden seien und von der Partnerorganisation RSA in Griechenland unterstützt würden, seien die Menschen auch mehrere Monate nach der Abschiebung immer noch obdachlos (Pro Asyl, Bett, Brot, Seife - Ein ferner Traum für Flüchtlinge in Griechenland, 28.05.2021). In einem Videobeitrag von rbb24 vom 23.07.2021 über die Lage von Geflüchteten in Athen heißt es: "Die griechische Regierung bringt immer mehr Geflüchtete auf das Festland, um die Inseln zu entlasten. Viele stranden im Großraum Athen. Dort campieren seit vielen Wochen Zehntausende obdachlose Flüchtlinge auf Straßen, Plätzen, in leerstehenden Häusern und Lagern. Fernab jedweder Grundversorgung, ohne medizinische Hilfe, ohne Essen und Hygiene scheinen ihre Schicksale vergessen und aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden" (RBB 24, "Die Menschen haben keine Chance, auf eigenen Beinen zu stehen", 23.07.2021, verfügbar unter: www.rbb24.de/panorama/beitrag/2021/07/gefluechtete-helfer-griechenland-athen-camp-eleonas.html). Laut einem Beitrag von BR 24 ist die Obdachlosigkeit anerkannter Schutzberechtigter nicht nur in Athen ein Problem, sondern auch auf den griechischen Inseln (BR 24, Anerkannte Geflüchtete: Warum sie nach Deutschland weiterziehen, verfügbar unter: www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/anerkannte-gefluechtete-warum-sie-nach-deutschland-weiterziehen,ShfvZXn). [...]

Der Kläger kann auch bereits deshalb keine Unterstützung durch das HELIOS II-Programm erhalten, weil die Anmeldefrist (s. dazu oben) abgelaufen ist. Obendrein schreibt das Auswärtige Amt zur Frage, ob anerkannt Schutzberechtigte, die aus anderen EU-Ländern zurückkehren, Zugang zum HELIOS II-Programm hätten, dass IOM Griechenland mit dem zuständigen Migrationsministerium in Kontakt stehe, es laut IOM bislang aber keinen solchen Fall gegeben habe und das Programm nicht als Anspruchsleistung ausgestaltet sei (AA, Auskunft an VG Schleswig-Holstein vom 15.10.2020, S. 3). Damit kommt es auf die weiteren Zugangshindernisse nicht an (vgl. dazu den Bericht der NGO Mobile Info Team vom Februar 2021: The Living Conditions Of Applicants And Beneficiaries Of International Protection – Evidence Of Greece’s Failure To Provide Sustainable Accomodation Solutions, S. 18). Zur Unterstützung bei der Unterbringung durch Nichtregierungsorganisationen schreiben Pro Asyl und RSA im April 2021, ihnen seien keine anderen Programme bekannt, die von NGOs durchgeführt werden, um international Schutzberechtigte beim Zugang zu Wohnraum zu unterstützen; die Organisationen Greek Council for Refugees (GCR), SolidarityNow, Arsis und PRAKSIS hätten auf Anfrage mitgeteilt, dass sie derzeit keinen Wohnraum oder Wohnunterstützung außerhalb des HELIOS- Programms anböten; eine Liste mit Organisationen, die Wohnraum für international Schutzberechtigte anbieten, existiere nicht (Pro Asyl/RSA: Stellungnahme - Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 10). Einige Organisationen mit Kontaktdaten, die Notunterkünfte und Unterstützung anbieten, sind zwar auf der Webseite refugees.studyingreece.edu.gr/shelter/ gelistet. Auch führt die Broschüre "Survival Guide for Asylum Seekers and Refugees" aus dem Jahr 2018 (verfügbar unter: data2.unhcr.org/en/documents/details/64729) in der Rubrik "Accomodation" Organisationen auf, die beim Thema Wohnraum unterstützen. Angesichts des nahezu vollständigen Heraushaltens des griechischen Staats bei der Bereitstellung von Unterkünften kann aus der bloßen Benennung einzelner Organisationen jedoch noch nicht auf ein ausreichendes Angebot geschlossen werden. Insbesondere ist nicht bekannt, welche tatsächlichen Kapazitäten die aufgelisteten Organisationen haben und welche Voraussetzungen es für die Inanspruchnahme von Unterstützung gibt. Auch auf dem privaten Wohnungsmarkt sei es laut einem Bericht der NGO Mobile Info Team von Februar 2021 für anerkannt Schutzberechtigte extrem schwierig, eine bezahlbare Wohnung zu finden; zudem erführen sie systematische Diskriminierung von Vermietern (Mobile Info Team: The Living Conditions Of Applicants And Beneficiaries Of International Protection – Evidence Of Greece’s Failure To Provide Sustainable Accomodation Solutions, S. 18)

4. Vor diesem Hintergrund besteht derzeit selbst für gesunde und arbeitsfähige alleinstehende Männer das "real risk" des "Fehlens eines Bettes". Angesichts der skizzierten Auskunftslage zur tatsächlichen Situation in Griechenland kann jedenfalls nicht allein aufgrund der Möglichkeit informeller Strukturen oder weil Obdachlosigkeit kein "augenscheinliches Massenphänomen" sei, angenommen werden, dass der Kläger eine Unterkunft finden könne. Denn für den Umstand, dass Obdachlosigkeit kein Massenphänomen zu sein scheint, kommen verschiedene Erklärungen in Betracht, etwa die illegale Unterkunft in leerstehenden Gebäuden oder der Wegzug aus Griechenland, das, wie oben wiedergegeben, oft "nur" als "Transitland" gesehen wird. Damit ist gerade nicht gesagt, dass im Falle einer Rücküberstellung nach Griechenland eine legale Unterkunft bezogen werden kann. [...]

III. Angesichts der ihn in Griechenland derzeit auf unabsehbare Zeit zu erwartenden Obdachlosigkeit kommt es nicht darauf an, ob der Kläger dort eventuell in der Lage wäre, wenigstens sein sonstiges Existenzminimum ("Brot, Seife") aus eigener Erwerbstätigkeit zu erwirtschaften, wie er es hier in Deutschland bereits vermag. [...]