VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 10.01.2022 - 6 K 359/21 A - asyl.net: M30384
https://www.asyl.net/rsdb/m30384
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für pakistanisches Kind mit schwerer Herzerkrankung:

1. Es gibt in Pakistan zwar Behandlungsmöglichkeiten für die meisten Krankheiten, jedoch fehlt es im öffentlichen Gesundheitssystem an Gesundheitseinrichtungen und qualifiziertem Personal.

2. Der Zugang zu qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung ist begrenzt. In öffentlichen Gesundheitseinrichtungen ist die Finanzierung des notwendigen Behandlungsmaterials bisweilen nicht gesichert, die diagnostische Ausstattung ist mitunter veraltet und die Anwesenheit von Ärzt*innen in vielen Einrichtungen unsicher.

3. Es gibt in Pakistan keine spezialisierten kinderkardiologischen Krankenhäuser. In Pakistan gibt es etwa 21 bis 25 ausgebildete Kinderkardiolog*innen und vier bis acht Kinderherzchirurg*innen. Aus diesem Grund warten in Pakistan etwa 9.000 Kinder auf eine notwendige Herzoperation.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, medizinische Versorgung, Herzfehler, Herzerkrankung, Abschiebungsverbot, Gefäßerkrankung, Kind, Attest, Herzkrankheit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

19 Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass in der Person des Klägers die vorstehend beschriebenen Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots aus gesundheitlichen Gründen erfüllt sind. Er leidet an einer lebensbedrohlichen Erkrankung, die sich infolge unzureichender Behandlungsmöglichkeiten in Pakistan durch die Abschiebung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr wesentlich verschlechtern würde.

20 Der Kläger leidet nach dem ärztlichen Attest von D ... vom ... 2021 unter anderem an einer schweren angeborenen Herzerkrankung. [...]

21 Zwar bestehen in Pakistan in den modernen Krankenhäusern in den Großstädten Behandlungsmöglichkeiten für die meisten in Rede stehenden Krankheiten. Auch die meisten Medikamente können in den Apotheken in ausreichender Menge und Qualität erworben werden. (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 28. September 2021, Seite 22 f.). Die stationäre und ambulante Behandlung durch einen Kinderkardiologen ist sowohl im privaten Agha Khan University Hospital in Karachi als auch im Armed Forces Institute of Cardiology in Rawalpindi, einer öffentlichen Einrichtung, verfügbar. Dort sind auch Kontrollen und ggf. Anpassungen von Herzschrittmachern grundsätzlich möglich, ebenso wie diagnostische Bildgebung mittels Echokardiographie und EKG (vgl. MedCOI, BMA 14175, 3. November 2020, S. 2 f). Auch das Medikament Propranolol ist in Pakistan verfügbar (vgl. MedCOI, AVA 14644, 7. April 2021, S. 4).

22 Jedoch fehlt es im pakistanischen öffentlichen Gesundheitssystem an Gesundheitseinrichtungen und qualifiziertem Personal in ausreichender Zahl im Verhältnis zur schnell wachsenden Bevölkerung. Der Zugang zu qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung ist begrenzt. In öffentlichen Gesundheitseinrichtungen ist die Finanzierung des notwendigen Behandlungsmaterials bisweilen nicht gesichert, die diagnostische Ausstattung ist mitunter veraltet (vgl. EASO MedCOI, Question & Answer BDA-20200117- PK-7162, 29. Januar 2020, S. 4; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Pakistan, 25. Juni 2021, S. 75). Insbesondere die Anwesenheit von Ärzten ist in vielen Einrichtungen unsicher (vgl. BFA, a.a.O., S. 75). Es gibt in Pakistan keine spezialisierten kinderkardiologischen Krankenhäuser. Allenfalls in vier Krankenhäusern im ganzen Land können Patienten mit angeborenen Herzkrankheiten behandelt werden. In Pakistan gibt es etwa 21 bis 25 ausgebildete Kinderkardiologen und vier bis acht Kinderherzchirurgen. Aus diesem Grund warten in Pakistan etwa 9.000 Kinder auf eine notwendige Herzoperation, jede Woche kommen etwa 25 bis 30 neue Fälle hinzu (vgl. EASO MedCOI vom 29. Januar 2020, a.a.O., S. 5 f.).

23 Vor diesem Hintergrund ist nicht mit der erforderlichen Verlässlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger in Pakistan dauerhaft Zugang zu den regelmäßig und engmaschig erforderlichen Kontrollen und ggf. Anpassungen seines Herzschrittmachers sowie zu den im Fall der immer wieder auftretenden medizinischen Notfälle erforderlichen Akutbehandlungen erhielte. Selbst wenn sich seine Familie in bzw. um Karachi oder Rawalpindi niederließe, bleibt offen, ob er Zugang zu den stark begrenzten Behandlungskapazitäten dort erhielte. In der Folge würde sich seine schwere angeborene Herzerkrankung im Falle einer Abschiebung nach Pakistan aufgrund fehlender Kontrolle und Behandlung aller Voraussicht nach alsbald wesentlich verschlechtern, so dass er der Gefahr schwerer bzw. sogar lebensbedrohlicher körperlicher Schäden durch neuerliche Arrhythmien ausgesetzt wäre. Ob die erforderlichen medizinischen Behandlungen und Kontrollen für den Kläger bzw. seine Familie in Pakistan finanzierbar wären, kann demnach dahinstehen. [...]