VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 17.01.2022 - 3 L 664/21 A - asyl.net: M30383
https://www.asyl.net/rsdb/m30383
Leitsatz:

Verpflichtung, im Widerrufsverfahren Angaben zur religiösen Praxis zu machen, ist rechtmäßig:

Ein wegen der Konversion vom Islam zum Christentum anerkannter Flüchtling kann im Rahmen der Überprüfung der Anerkennung dazu verpflichtet werden, Fragen zu seiner religiösen Praxis zu beantworten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Konvertiten, Überprüfung, Flüchtlingsanerkennung, Widerrufsverfahren, Mitwirkungspflicht, Konversion,
Normen: AsylG § 73 Abs. 3a, AsylG § 15 Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 15 Abs. 2 Nr. 5 AsylG, AsylG § 73 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

13 Der Antrag ist allerdings unbegründet, denn bei der hierbei gebotenen Abwägung überwiegt das gesetzlich angeordnete öffentliche Vollziehungsinteresse das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Der angefochtene Bescheid erweist sich im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) als rechtmäßig. Die erhobene Anfechtungsklage – VG 3 K 665/21 A – wird aller Voraussicht nach erfolglos bleiben (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

14 Rechtsgrundlage der Aufforderung zur Mitwirkung und Vorlage der Urkunden ist § 73 Abs. 3a AsylG in Verbindung mit § 15 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 5 AsylG. Nach § 73 Abs. 3a AsylG ist der Ausländer nach Aufforderung durch das Bundesamt persönlich zur Mitwirkung bei der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des Widerrufs oder der Rücknahme der Anerkennung als Asylberechtigter verpflichtet, soweit dies für die Prüfung erforderlich und dem Ausländer zumutbar ist. Nach § 15 Abs. 2 AsylG ist der Ausländer persönlich verpflichtet, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden die erforderlichen Angaben mündlich und nach Aufforderung auch schriftlich zu machen (Nr. 1) und alle erforderlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, die in seinem Besitz sind, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen (Nr. 5). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

15 Für die Prüfung der Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen ist die Mitwirkung eines Betroffenen dann erforderlich, wenn kein einfacheres und besser geeignetes Mittel zur Prüfung der Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen auf Seiten des Bundesamtes vorhanden ist. Es müssen gewisse objektiv überprüfbare Anhaltspunkte bestehen, dass eine persönliche Mitwirkung zu für die Widerrufsprüfung relevanten Erkenntnissen führen kann (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 13. August 2021 – 1 A 5518/19 –, juris Rn. 68 m.w.N.). Das ist hier der Fall.

16 Nach den Maßstäben der Anerkennungsentscheidung sind die auf die weitere Entwicklung der Glaubensüberzeugung des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland gerichteten Fragen für den Fortbestand seines Schutzstatus relevant. Entgegen seiner Ansicht hat ihm das Bundesamt nicht allein aufgrund einer glaubhaft angenommenen Vorverfolgung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Vielmehr ergibt sich aus dem zugrunde liegenden Entscheidervermerk, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft auch deswegen zuzuerkennen sei, weil er glaubhaft eine innere Abneigung und Ablehnung der Lehren des Islams bezeugt habe und weiterhin die Ernsthaftigkeit des Engagements für die neue Religion bei ihm glaubhaft sei. Ob sich für diese Gefahrenprognose ein hinreichender Anhalt dem Anhörungsprotokoll entnehmen lässt, ist unerheblich, denn maßgeblich ist diesbezüglich allein die Einschätzung des Bundesamtes. Soweit nämlich – wie hier – das Bundesamt die Zuerkennung von sich aus ausgesprochen hat, ist ebenso nur von den Verhältnissen im Zeitpunkt des Ergehens des bestandskräftigen Zuerkennungsbescheides auszugehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Mai 2003 – BVerwG 1 C 15/02 –, juris Rn. 8). Dabei ist die Frage, ob ein Bekenntnis des Antragstellers zum Christentum nachträglich entfallen ist oder sich signifikant abgeschwächt hat, für die Widerrufsvoraussetzung des "Nicht-mehr-Vorliegens" der Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 73 Abs. 1 AsylG sowie eines Wegfalls der Umstände im Sinne von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) relevant. [...]

18 Ebenso ist dem Antragsteller die geforderte Mitwirkungshandlung zumutbar. Dies ist dann der Fall, wenn sie ihm möglich und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt ist. So liegen die Dinge hier, denn der Antragsteller selbst stellt nicht in Abrede, dass er die gestellten Fragen ohne Weiteres schriftlich beantworten und die geforderten Unterlagen einreichen kann. Insbesondere stellt die Aufforderung weder eine unzulässige staatliche Ausforschung seiner Gedanken- und Gefühlswelt im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 14. September 1989 – 2 BvR 1062/87 –, juris) noch einen unzulässigen Eingriff in seine Glaubens- und Gewissensfreiheit im Sinne von Art. 4 GG dar. Denn nach der gerichtlichen Erkenntnislage sind Konvertiten im Iran nur dann dem Risiko der Verfolgung ausgesetzt, wenn sie durch die öffentliche Ausübung ihres Glaubens die Aufmerksamkeit der iranischen Behörden erregen (vgl. VG Berlin, Urteil vom 9. März 2021 – VG 3 K 196/18 A –, juris Rn. 33 m.w.N.). Vor diesem Hintergrund beziehen sich die gestellten Fragen auch im Wesentlichen auf äußere Umstände der Religionsausübung und betreffen mithin auch weniger den Kern- als eher den Randbereich der beiden Grundrechte mit vergleichsweise niedriger Eingriffsintensität (vgl. dazu auch VG Hamburg, Urteil vom 13. August 2021 – 1 A 5518/19 –, juris Rn. 73). [...]

21 Die genannten Regelungen stehen auch in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel, weil es dem beweisbelasteten Bundesamt andernfalls kaum möglich wäre, eine Prüfung vorzunehmen. Die Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen stellt gleichsam das Spiegelbild der Prüfung zur Zuerkennung der der Flüchtlingseigenschaft zu treffender Feststellung der Bedeutung bestimmter Glaubensbetätigungen für die religiöse Identität des Schutzsuchenden dar. {...]