OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25.01.2022 - 3 S 87/21 - asyl.net: M30381
https://www.asyl.net/rsdb/m30381
Leitsatz:

Keine außergewöhnliche Härte für eine zwischen Registrierung und Visumsantragstellung volljährig gewordene Somalierin durch die Verweigerung des Nachzugs zu ihrem subsidiär schutzberechtigten Vater und ihren Geschwistern:

1. Eine außergewöhnliche Härte i.S.d. § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG setzt voraus, dass ein schutzbedürftiges Familienmitglied allein ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist und diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann.

2. Auch eine besondere geschwisterliche Bindung reicht jedenfalls nicht mit der für die Eilrechtsschutzgewährung erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit für die Annahme einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG aus.

3. Nicht familienbezogene Aspekte, die die allgemeine politische oder wirtschaftliche Lage im Herkunfts- oder Aufenthaltsstaat betreffen, sind grundsätzlich bei der Prüfung der außergewöhnlichen Härte i.S.d. § 36 Abs. 2 AufenthG nicht zu berücksichtigen. Die Norm setzt voraus, dass die Härte im Hinblick auf die Notwendigkeit der Wiederherstellung der Familiengemeinschaft besteht.

4. Beim Kindernachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a Abs. 1 S. 1 AufenthG kommt es für die Beurteilung der Minderjährigkeit des Kindes auf den Zeitpunkt des Visumsantrags an. Unionsrechtliche Vorgaben zum Nachzug zu Flüchtlingen stehen dem nicht entgegen, da die Familienzusammenführungsrichtlinie auf den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nicht anwendbar ist. Weder die Online-Registrierung zur Antragstellung noch die fristwahrende Anzeige nach § 29 Abs. 2 S. 1 AufenthG sind als rechtzeitige Visumsbeantragung anzusehen.

(Leitsätze der Redaktion; Änderung des Beschlusses des VG, welches die Verpflichtung zur Erteilung des Visums aufgrund außergewöhnlicher Härte angenommen hatte)

Schlagwörter: Somalia, Familienzusammenführung, subsidiärer Schutz, außergewöhnliche Härte, Krankheit, familiäre Beistandsgemeinschaft, Geschwister, Frauen, Volljährigkeit, Kindernachzug, vorläufiger Rechtsschutz, humanitäre Bedingungen, Familieneinheit, Beurteilungszeitpunkt, minderjährig, Registrierung, fristwahrende Anzeige, Visum, Visumsantrag,
Normen: AufenthG § 36 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 36a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 29 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

3 Die Antragsgegnerin zeigt mit Erfolg auf, dass die Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht sind. [...]

4 Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt voraus, dass der im Ausland oder Inland lebende schutzbedürftige Familienangehörige im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung allein ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist und diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann. Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung und Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. März 2011 - 1 C 7.10 - juris Rn. 10; BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 - juris Rn. 23; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 - OVG 3 B 17.10 - juris Rn. 23; Urteil vom 15. Oktober 2014 - OVG 6 B 1.14 - juris Rn. 14). Maßgeblich ist, wie sich die familiäre Situation bei objektiver Betrachtung im Entscheidungszeitpunkt darstellt, d.h. ob die Versagung einer Familienzusammenführung angesichts der aktuellen familiären Situation im Hinblick auf höherrangiges Recht schlechthin unvertretbar wäre (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Oktober 2021 - OVG 3 S 43/21 - juris Rn. 11).

5 Gemessen hieran bietet das Vorbringen der Antragstellerin im einstweiligen Anordnungsverfahren keine tragfähigen Anhaltspunkte für die Annahme, eine Versagung des Visums führe zu einer außergewöhnlichen Härte. Weder in Bezug auf die Antragstellerin noch im Hinblick auf ihren Vater oder ihre Geschwister wird deutlich, dass diese zu einem eigenständigen Leben nicht (mehr) in der Lage sind und daher eine Einreise der Antragstellerin in das Bundesgebiet dringend geboten ist. [...]

8 Die besondere geschwisterliche Bindung reicht jedenfalls nicht mit der für den Erlass der erstrebten einstweiligen Anordnung erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit für die Annahme einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG. Angesichts dessen gebieten weder Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. zum Schutzbereich hinsichtlich Geschwisterbeziehungen BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 2014 - 1 BvR 2926/13 - juris Rn. 23) noch Art. 8 Abs. 1 EMRK (vgl. EGMR, Urteil vom 13. Februar 2001 - Nr. 47160/99, Ezzouhdi ./. Frankreich - HUDOC Rn. 34; Urteil vom 9. April 2019 - Nr. 23887/16, I.M. ./. Schweiz - HUDOC Rn. 62) eine andere Bewertung. Auch insoweit ist die Antragstellerin auf das Klageverfahren zu verweisen.

9 Ebenso wenig begründen die Ausführungen der Antragstellerin eine außergewöhnliche Härte, sie sei als unverheiratete, junge Frau ohne männliche Begleitung sowohl in Somalia als auch in Kenia erheblichen Gefahren für Leib und Leben insbesondere in Form von sexueller Gewalt oder Zwangsheirat ausgesetzt. § 36 Abs. 2 AufenthG betrifft den Familiennachzug und eine außergewöhnliche Härte im Sinne dieser Norm setzt voraus, dass die Härte im Hinblick auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft besteht. Daher ist für die Berücksichtigung nicht familienbezogener, die allgemeine politische oder wirtschaftliche Lage im Herkunfts- oder Aufenthaltsstaat betreffender Gesichtspunkte im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der außergewöhnlichen Härte grundsätzlich kein Raum (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 - juris Rn. 23; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Februar 2017 - OVG 3 S 9.17 - juris Rn. 5; Beschluss vom 27. April 2018 - OVG 3 S 23.18, OVG 3 M 22.18, OVG 3 M 23.18 - juris Rn. 2)

10 Der Klärung im Hauptsacheverfahren muss vorbehalten bleiben, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen in Fortentwicklung der Rechtsprechung zu § 36 Abs. 2 AufenthG der Zeitraum zwischen der Terminregistrierung und dem Vorsprachetermin berücksichtigt werden kann, der hier dazu führt, dass sich der angestrebte Nachzug zu dem subsidiär schutzberechtigten Vater nicht auf § 36a Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 6 Abs. 3 AufenthG stützen lässt, weil die Antragstellerin nicht (mehr) zu dem danach anspruchsberechtigten Personenkreis gehört.

11 Gemäß § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann Ehegatten und minderjährigen ledigen Kindern eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Diese Voraussetzungen erfüllt die Antragstellerin nicht, da sie im entscheidungserheblichen Zeitpunkt kein "minderjähriges Kind" mehr war. Maßgeblich ist hierbei auf den Zeitpunkt der Visumbeantragung abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - 1 C 17.08 - juris Rn. 10; Urteil vom 29. November 2012 - 10 C 11.12 - juris Rn. 14; Beschluss vom 2. Dezember 2014 - 1 B 21.14 - juris Rn. 6). Diese zu § 32 Abs. 1 AufenthG geklärten Maßgaben gelten auch für § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, der gleichermaßen wie § 32 Abs. 1 AufenthG "dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers" den Nachzug eröffnet. Weder Zweck noch Systematik oder Entstehungsgeschichte der Norm, die den Angehörigen der Kernfamilie angesichts der ehelichen und familiären Bindungen ein Nachzug eröffnen soll, geben Anhaltspunkte für eine abweichende Bewertung (vgl. BT-Drs. 19/2438 S. 22; Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand: Juli 2021, AufenthG § 36a Rn. 7; zum Sonderfall der vor seinem Inkrafttreten eingeleiteten Visumverfahren vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. November 2020 - OVG 6 B 6.19 - juris Rn. 17 ff.).

12 Unionsrechtliche Vorgaben zur Familienzusammenführung stehen dem schon deshalb nicht entgegen, weil die Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung) auf den Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen zu einem subsidiär Schutzberechtigten gemäß Art. 3 Abs. 2 lit. c der Richtlinie 2003/86/EG nicht anwendbar ist (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2018 - C-380/17 - juris Rn. 33; Urteil vom 13. März 2019 - C-635/17 - juris Rn. 33 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. September 2020 - OVG 3 B 38.19 - juris Rn. 18). Daher ist die Argumentation in den Schlussanträgen des Generalanwalts Collins vom 16. Dezember 2021 - C-279/20 -, es komme im Rahmen des Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG für die Frage der Minderjährigkeit eines Kindes, das den Nachzug zu seinem als Flüchtling anerkannten Elternteil begehrt, auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung des Zusammenführenden an (www.curia.europa.eu Rn. 47 ff.), hier nicht übertragbar.

13 Die am ... 2001 geborene Antragstellerin hat ihren Visumantrag am 14. November 2019 - nach Eintritt ihrer Volljährigkeit - gestellt und nicht, wie sie meint, bereits mit der "Registrierung für die Beantragung eines nationalen Visums" durch ihre Bevollmächtigte am 26. März 2018. Der Eintragung in die Termin-Warteliste für die Deutsche Botschaft Nairobi über ein Online-Portal kann hier nicht die Bedeutung einer Antragstellung zugemessen werden. [...]

16 [...] Für eine Antragstellung ist erforderlich, dass der Erklärende mit seinem Verhalten oder seiner Äußerung in für die Behörde erkennbarer Weise zum Ausdruck bringt, dass er ein bestimmtes Tätigwerden der Behörde erstrebt, indem er dieser ein Begehren mitteilt, das beschieden werden soll (vgl. OVG Berlin, Beschluss vom 28. Dezember 1998 - OVG 2 B 34.93 - LKV 1999, 370, 371; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. September 2013 - 4 S 1042/12 - juris Rn. 30; Ziekow, VwVfG, 4. Aufl. 2020, § 22 Rn. 8). Hiervon kann bei der vorgenommenen Online-Registrierung nicht ausgegangen werden.

17 Weder der Webseite des Auswärtigen Amtes, die die Antragstellerin bzw. ihre Prozessbevollmächtigte zur Mitteilung ihres Terminwunsches nutzten, noch der Bestätigungsmail zur Terminregistrierung lassen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Antragsgegnerin der Registrierung einer weitergehenden Aussagegehalt beimesse. Ebenso wenig sprechen die begrenzten Informationen, die der Botschaft in der Registrierung übermittelt wurden, für eine Auslegung im Sinne eines Antrags. [...]

18 Ohne Erfolg verweist die Antragstellerin auf das Visumhandbuch des Auswärtigen Amtes. Daraus lässt sich nicht ableiten, dass die Antragstellerin nach Treu und Glauben so zu behandeln sei, als hätte sie rechtzeitig einen Visumantrag gestellt. Ihre Terminregistrierung umfasste nicht die Angaben, die nach den von ihr zitierten Passagen des Handbuchs erforderlich sind, um eine Terminbuchung als fristwahrenden Antrag zu werten. Dazu zählt beim Familiennachzug auch, "zu wem die Einreise stattfindet (Name, Vorname, Aufenthaltsstatus der Referenzperson; bei Nachzug zum unbegleiteten Minderjährigen deren Geburtsdatum)".

19 Auch soweit die Antragstellerin ein strukturelles Organisationsdefizit der Antragsgegnerin bei der Botschaft in Nairobi rügt und geltend macht, ihr könne die erhebliche Wartezeit zwischen der Terminregistrierung und dem Vorsprachetermin von mehr als anderthalb Jahren nicht angelastet werden, rechtfertigt dies im einstweiligen Anordnungsverfahren keine andere Bewertung. Es ist nicht ersichtlich, warum es der Antragstellerin angesichts der offensichtlich bereits seit März 2018 bestehenden anwaltlichen Beratung nicht möglich oder nicht zumutbar gewesen ist, von alternativen Möglichkeiten einer grundsätzlich nicht formgebundenen Visumbeantragung jenseits einer persönlichen Vorsprache, namentlich einer schriftlichen Antragstellung bei der Botschaft, vor ihrer Volljährigkeit Gebrauch zu machen.

20 Für eine rechtzeitige Visumbeantragung ist auch die "fristwahrende Anzeige, § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG" unerheblich. Abgesehen davon, dass sie nicht den Erklärungsgehalt eines für die Erteilung eines Visums erforderlichen Antrags hat (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. Januar 2022 - OVG 3 M 22/21 - juris Rn. 7 ff.; Beschluss vom 19. Januar 2022 - OVG 3 M 185/20 - juris; Beschluss vom 9. Dezember 2021 - OVG 3 M 53/21 - juris Rn. 9), wurde sie hier erst am 27. Juli 2019 und damit nach Volljährigkeit der Antragstellerin erstellt. [...]