VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Beschluss vom 26.01.2022 - 10 L 2456/21.GI.A - asyl.net: M30371
https://www.asyl.net/rsdb/m30371
Leitsatz:

Zuständigkeit im Dublin-Verfahren gemäß Art. 10 Dublin III-VO bis zur bestandskräftigen Ablehnung der Anträge der Familienangehörigen:

Eine Erstentscheidung im Sinne von Art. 10 Dublin III-VO liegt erst dann vor, wenn die Entscheidung über die Anträge auf internationalen Schutz bestands- bzw. rechtskräftig sind. Eine Zuständigkeit gemäß Art. 10 Dublin III-VO kann sich mithin auch dann ergeben, wenn die Anträge der Familienangehörigen auf internationalen Schutz zum maßgeblichen Zeitpunkt zwar behördlich abgelehnt worden sind, aber hiergegen Klage erhoben wurde.

(Leitsätze der Redaktion; sich anschließend an: OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.08.2021 - 1 LA 43/21 - asyl.net: M29952)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Familienzusammenführung, Dublin III-Verordnung, Zuständigkeit, Schutz von Ehe und Familie, Bestandskraft,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 10,
Auszüge:

[...]

Vorliegend wäre Slowenien zwar grundsätzlich gemäß Art. 13 Abs. 1 S. 1 Dublin-III-VO für die Prüfung des Asylantrages zuständig, weil der Antragssteller von dort aus illegal nach Deutschland eingereist ist, was der Kläger selbst in seiner Anhörung bestätigte.

Die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland zur Prüfung des Asylantrages des Antragsstellers ergibt sich im vorliegenden Verfahren jedoch aus Art. 10 Dublin-III-VO, so dass die Voraussetzungen des § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG mangels Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaates nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG nicht gegeben sind.

Art. 10 Dublin-III-VO sieht vor, dass wenn ein Antragsteller in einem Mitgliedsstaat einen Familienangehörigen hat, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, dieser Mitgliedsstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun. [...]

Bei den Beiden handelt es sich damit um Familienangehörige i.S.v. Art. 10, Art. 2 lit. g Dublin-III-VO (vgl. zum Begriff i.S.d. Vorschrift: Thomann in: BeckOK MigR, 9. Ed. 15.10.2021, Dublin III-VO Art. 10 Rn. 3).

Die betreffenden Personen i.S.d. Art. 10 Dublin-III-VO haben ihren Wunsch, dass auch das Verfahren des Antragsstellers in Deutschland geführt wird, ausdrücklich schriftlich kundgetan. [...]

Es liegt auch noch keine Erstentscheidung in der Sache vor.

Da der Antragsteller aber seinen Asylantrag beim Bundesamt am 07.05.2021 stellte und damit zu einem Zeitpunkt, wo der Asylantrag seiner Ehefrau und seines Sohnes zwar negativ beschieden wurde, aber durch die fristgerecht erhobene Klage dem Bescheid vom 03.03.2020 noch keine Bestandskraft zukommt, kommt es darauf an, ob die "Erstentscheidung in der Sache" erst dann vorliegt, wenn die Entscheidung über den Asylantrag bestands- bzw. rechtskräftig ist (vgl. Thomann in: BeckOK MigR, 9. Ed. 15.10.2021, Dublin III-VO Art. 10 Rn. 5.1). [...]

Bereits diese Aspekte sprechen dafür, dass der Begriff der "Erstentscheidung in der Sache" i.S.d. Art. 10 Dublin-III-VO nicht allein die behördliche Erstentscheidung gemeint sein kann. Dies hätte vielmehr zur Folge, dass ein nachreisender Antragsteller zwangsläufig auf nicht absehbare Zeit von seiner Familie getrennt werden könnte, ohne dass Gewissheit über den Asylantrag seiner Familienangehörigen bestünde. Dies ist aber nicht mit oben genannten Erwägungsgründen, die sich auch an verschiedenen Stellen der Verordnung wiederfinden, zu vereinbaren.

Vielmehr würde eine solche enge Auslegung der Verordnung dazu führen, dass die Familienzusammenführung für die Zeit zwischen einer ablehnenden Bescheidung durch die Behörde bis zum Abschluss eines ggf. folgenden Rechtsschutzverfahrens nicht vorgesehen wäre (OVG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 3.9.2019 - OVG 6 N 58.19, BeckRS 2019, 20367 Rn. 14, beck-online).

Auch ein Vergleich zu Art. 9 Dublin-III-VO spricht für ein weitergehendes Verständnis. Während Art. 9 Dublin-III-VO die Zuständigkeit von einem Familienangehörigen ableitet, welcher bereits als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedsstaat aufenthaltsberechtigt ist, stellt Art. 10 Dublin-III-VO auf eine noch nicht ergangene Erstentscheidung ab. Es scheint daher naheliegend, dass Art. 10 Dublin-III-VO gerade den Zeitraum bis zu einem bestands- und ggf. rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens der Familienangehörigen regeln möchte und damit als Erstentscheidung in der Sache nicht auf die reine Behördenentscheidung abzustellen ist. [...]